Häuser aus Worten und Pinselstrichen: Die Bauten von Liu Jiakun
Liu Jiakun ist Maler, Dichter und Architekt. In seiner Heimatprovinz Sichuan hat er zahlreiche Museen, Wohnbauten, Bürokomplexe, Kulturzentren und Parkanlagen gebaut. Nun wurde der Chinese für sein umfassendes Lebenswerk mit dem Pritzker-Preis ausgezeichnet.
Hoch oben über dem Chishui, der sich in engen Kurven durch das dicht bewaldete Kalkgebirge windet, balanciert mit aller Ruhe, umgeben von sattem Grün und dramatisch in die Tiefe stürzenden Felswänden, eine feine, fragile Stahlstützenkonstruktion mit Glaswänden, Wasserbecken und weit hinausragender Dachkrempe. Die Inszenierung der wahrlich berauschenden Schönheit könnte nicht passender sein, handelt es sich beim 2020 fertiggestellten Gebäude in Tianbao, Provinz Sichuan, doch um einen Verkostungsraum für Hochprozentiges. Zu Füßen des gläsernen Pavillons wird der sogenannte Xiao-Lang-Likör hergestellt, die Lagerung erfolgt in kalten, tief in den Berg hineingebohrten Stollen, wo die edlen Flaschen bis zum Erreichen der Marktreife einige Jahre in kühler Dunkelheit verbringen.
Erst kürzlich wurde der Architekt dieses mit Fingerspitzengefühl in die Topografie hineinplatzierten Schnapstempels, Liu Jiakun, mit dem renommierten Pritzker-Preis 2025 ausgezeichnet. Der oft auch als »Oscar der Architektur« bezeichnete Award ist mit 100.000 US-Dollar dotiert und wird seit 1979 im Jahresrhythmus für herausragende Lebenswerke vergeben. »Und Liu Jiakun«, erklärt die Pritzker-Jury in ihrem Kommentar, »erfindet und konstruiert, frei von allen stilistischen Zwängen, Bauwerke von einer so tiefen Kohärenz, dass sie eine gewisse Philosophie offenbaren und mit Natur, Geschichte und Baukultur eine Symbiose eingehen.« Der zarte Pavillon auf den Hängen des Chishui-Tales sei eine perfekte Manifestation dessen, was in einem zunehmend urbanisierten China immer seltener anzutreffen sei, so die Jury.
Der angstlose Träumer
Liu Jiakun wurde 1956 in Chengdu geboren, erwies sich schon in früher Kindheit als künstlerisch begabt und erkundete seine Welt von da an durch Striche und Buchstaben, durch Zeichnen und Literatur. Er träumte davon, wie er in Interviews immer wieder erzählt, eines Tages Maler oder Dichter zu werden. Mit 17 Jahren nahm er am staatlichen Zhiqing-Programm für gebildete Jugendliche teil, fünf Jahre später wurde er zum Architekturstudium an der Chongqing University zugelassen. »Mein größtes Talent damals war, vor nichts Angst zu haben, und natürlich hatte ich auch ziemlich gute Mal- und Schreibfähigkeiten«, blickt der heute 68-Jährige zurück. »Wie in einem Traum wurde mir plötzlich klar, dass mein eigenes Leben wichtig war.«
Nach dem Studium arbeitete Jiakun zunächst für die Chengdu Architectural Design Academy und zog dann nach Tibet und Xinjiang, Westchina, wo er sich zehn Jahre dem Malen, Schreiben und Meditieren widmete. 1999 schließlich gründete er sein eigenes Architekturbüro in Chengdu, das heute 20 Mitarbeiter:innen umfasst und mit dem er sich darauf spezialisiert hat, traditionelle chinesische Architektur weiterzudenken, Geschichte mit Innovation zu verschränken und öffentliche Räume in dicht bebauten Ballungsräumen zu schaffen. Zu seinen bekanntesten Projekten zählen das Museum of the Cultural Revolution (2008), das Hu Huishan Memorial mit seinen rosa getünchten Innenräumen (2009), das Museum für Zeitgenössische Kunst in Chengdu (2011), das Museum für Kaiserliche Keramik in Suzhou (2016) sowie das Kulturzentrum in Songyang (2020).
Doch wohl keines seiner Projekte hatte einen so großen sozialen Impact wie das West Village in seiner Heimatstadt Chengdu. Der öffentliche Freizeitpark, der sich über einen riesigen Makro-Straßenblock erstreckt und 4,3 Hektar Fläche einnimmt, ist zugleich das größte, je von ihm geplante Bauwerk. Die fünfgeschoßige Matrix aus Sportplätzen, Laufstrecken, Gartenanlagen, Bambushainen, Wasser-becken, Picknickflächen und witterungs-geschützten Sport- und Ausstellungsräumen ist wie ein kollektives Wohnzimmer in der Stadt, eine Art sozialer Container, der in einer so dicht bebauten Industriemetropole wie Chengdu mit ihren 21 Millionen Einwohner:innen wie ein grüner Katalysator wirkt.
Der Blick auf das wunderbare, aber sicher nicht wunderschöne West Village macht klar: Architektur zeichnet sich nicht immer nur durch Ästhetik aus, sondern manchmal auch durch seine pure Nutzung und menschliche Begegnung. Oder, wie Liu Jiakun dies in eigenen Worten ausdrückt: »Ich strebe danach, wie Wasser zu sein, ohne eine feste Form zu haben, und die lokale Umgebung zu durchdringen. Mit der Zeit dann verfestigt sich das Wasser verwandelt sich in Architektur – und vielleicht sogar in die höchste Form menschlicher, spiritueller Schöpfung.«

Museum of the Cultural Revolution. Das Museum der Kulturrevolution in Chengdu wurde in einen leerstehenden Gewerbekomplex hineingesetzt.
Das Backstein-Implantat offenbart geheimnisvolle Durchblicke.

Ein ausgezeichneter Architekt. Liu Jiakun betreibt ein Büro mit 20 Mitarbeiter:innen in Chengdu. Er ist der zweite chinesische Architekt, der den
seit 1979 vergebenen, mit 100.000 US-Dollar dotierten Pritzker-Preis nun bekommen hat.
jiakun.com