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Architektonische Revitalisierung auf den Balearen: Wie eine junge Generation traditionelle Bauweisen klimagerecht adaptiert

Architektur
Nachhaltigkeit

Die Balearen stehen heute nicht nur für Sonne und Strand, sondern auch für eine architektonische Renaissance. Eine junge Generation entdeckt traditionelle Bauweisen neu, die nicht nur umweltfreundlich und an das Klima angepasst sind, sondern auch optisch ansprechend wirken – oft mit erstaunlich einfachen Mitteln.

Raves am Strand bis in die Morgen- und Mittagsstunden, dazu eine Prise Esoterik und eine Handvoll chemische Hilfsmittel. Ibiza gilt als balearische Partyinsel für jene, die sich unspießig fühlen möchten. Attraktiv ist sie heute auch auf dem Immobilienmarkt, die Preise für Zweit- und Drittwohnsitze gehören zu den höchsten in Spanien. Das ist die eine Realität. Jene für die rund 150.000 permanenten Einwohner:innen der Insel ist eine andere. Denn Kultur gab es hier schon vor ihrer Entdeckung durch das Partyvolk, auch in der ortstypischen Architektur, die auf lokale Materialien zurückgriff: den Kalksandstein Marès und das Neptungras, das am Meeresufer wächst.

Konstruktiv intelligent

Seit einigen Jahren wird diese Tradition von einer jungen Generation spanischer Architekt:innen wiederentdeckt, und das nicht aus Nostalgie, sondern aufgrund ihrer konstruktiven Intelligenz. Denn die alten Bauweisen sind bestens auf das heiße, feuchte Klima ausgerichtet: Schattige Innenhöfe und offene Erdgeschoße erlauben die Zirkula­tion von Luft, die Steine und Ziegel atmen wie Organismen und funktionieren wie Klima­anlagen. Heute, da sich die Mittelmeerregion bedingt durch die Klimakrise rapide aufheizt, eine bessere Option als Beton und Glas. Pep Ripoll und Juan Miguel Tizón haben ihren Wohnbau in Ibiza wie einen weiß leuchtenden Felsblock mitten in achtlos verstreuten Bauten für Tourismus und Freizeit platziert. »Unser Ziel war es, ein Haus zu bauen, dessen Identität mit dem Klima und der Lebensweise der Insel verknüpft ist«, sagen die Architekten. »Wir haben uns an den bäuerlichen ›Payesa‹-Häusern orientiert, mit ihren weißen Mauern und schattigen Räumen.« Das spürt man. Blaue, weiße und gelbe Fliesen zieren die Mauern im luftigen Erdgeschoß, ein Spiel von Licht und Schatten durchzieht den Block, die Fenster zu den Höfen erlauben das Durchlüften der Wohnungen. Man ist immer innen und außen zugleich – und dadurch stark mit dem Ort verbunden.

Robuster Kubus

Ganz ähnlich das schneeweiße Gebirge aus 43 Wohnungen, das Marta Peris und José Toral unter dem Namen »Raw Rooms« konzipierten. Hier surren keine energie­fressenden Klimaanlagen auf heißen Balkonen. Stattdessen hält die gekalkte Fassade die heiße Sonne draußen, im Inneren dominieren die warmen, sinnlichen Oberflächen aus Naturstein, Lehm und Holz, die die Luftfeuchtigkeit regulieren. In den Höfen und auf den ­begrünten Dachterrassen treffen sich die Nachbar:innen zum Plausch. In Platja d’en Bossa, dem beliebtesten Ferienort Ibizas, sorgte das Büro 08014 arquitectura mit einem robusten Kubus aus erdigen Ziegeln für etwas Ruhe zwischen Hotels, Clubs und Restaurants. Die 24 Wohnungen sind hier L-förmig um vier begrünte Höfe angeordnet. Hineingewoben in diese strenge Geometrie sind Räume für die wichtigen kleinen Momente des Alltags: eine Bank am Fenster für Begegnungen, eine Terrasse, ein Durchblick.

Schön und klug

All das passiert nicht zufällig zur selben Zeit, sondern folgt einem Plan. Das Instituto Balear de la Vivienda (IBAVI) ist für die staatliche Förderung des sozialen Wohnbaus zuständig und hat angesichts der dramatischen Wohnungsknappheit mehrere große Programme gestartet. Zum einen, weil der lukrative freie Markt für Eigentumsobjekte die Mietwohnungen komplett marginalisiert hatte. Zum anderen aus ökologischen Gründen. Viele IBAVI-Pilotprojekte sind Teil des EU-Programms »Life Reusing Posidonia«, das auf regionale Materialien anstatt auf importierte Baustoffe setzt. So erfolgreich ist das IBAVI-Progranm, das die elitäre ­spanische Architekturzeitschrift »El Croquis«, die ansonsten den Stararchitekt:innen mit ­Monografien huldigt, dem Institut 2023 eine eigene Ausgabe widmete.

Aber nicht nur Sozialwohnungen, sondern auch Villen werden immer mehr mit traditionellen Materialien gebaut. Das Architekturbüro Nøra Studio entschloss sich, beim Bau eines Einfamilienhauses in Sa Pobla auf Mallorca die Ziegelsteine, die seit dem 19. Jahrhundert von der Firma Ladrillerías Mallorquinas produziert werden, zu einem gestaltenden Element zu machen. Im Inneren dürfen sich die Räume dann ganz frei entfalten. Denn die Bautradition hat schließlich mit Arte Povera gar nicht so viel zu tun. Sondern mit Schönheit und Vernunft.

Erschienen in
LIVING 06-07/2024

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Maik Novotny
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