Wahrscheinlich Weltrekord.

Zumindest fällt einem kein Mensch ein, der als Ballettdirektor eines namhaften Opernhauses länger im Amt gewesen wäre als John Neumeier. 51 Jahre hat er diese Aufgabe bereits inne, erst nach dieser Spielzeit wird er den Stab an Demis Volpi weiterreichen. In den Ruhestand zu treten hat der 85-jährige international gefeierte Choreograf, der zudem auch Opern und Musicals inszenierte, freilich nicht vor. „Die nächsten drei Jahre sind bereits verbucht“, erzählt er beim Interview, das in einer Probenpause für „Odyssee“ stattfindet. „Dieses Ballett habe ich 1995 als Auftragswerk für die damals neue Konzerthalle Megaron in Athen geschaffen. Wir werden es nun nach fast 20 Jahren Pause in Hamburg wiederaufnehmen.“

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Unmittelbar danach kommt er nach Wien, um einen weiteren seiner Klassiker auf die Bühne der Wiener Staatsoper zu bringen: „Die Kameliendame“ nach dem Roman von Alexandre Dumas. Wien fühle er sich seit 1977 emotional verbunden, als er im Rahmen der Festwochen mit „Josephs Legende“ zur Musik von Richard Strauss einen weltweit akklamierten Erfolg verbuchen konnte.„Allein schon die Besetzung mit Judith Jamison als Potiphars Weib und dem sehr jungen Kevin Haigen als Joseph schuf eine besondere Atmosphäre. So etwas prägt auch die Beziehung zu einer Stadt." Nun freue er sich, dass wieder Leben in „Die Kameliendame“ fließe, was auch durch die neu agierenden Tänzerinnen und Tänzer geschehe.

„Für mich ist das ein sehr essenzielles Stück, weil es in seinem Kern die menschliche Beziehung trägt. Eine todkranke Frau, die sich an das Leben klammert, so gur sie eben kann, die erst gar nicht glaubt, dass Liebe für eine Kurtisane wie sie überhaupt möglich ist, und die dann, als sie daran glaubt, enttäuscht wird, hat etwas zutiefst Wahrhaftes.“ Diese Relevanz sei es auch, die ein Ballett zeitlos mache. „Makellose Technik ist das eine, aber was ich wirklich mit nach Hause nehme, ist das, was meine Seele reflektiert. Ich muss einen Teil von mir auf der Bühne wiedererkennen können. Ballett existiert jetzt, und deshalb muss es auch im Augenblick etwas über mich und meine Mitmenschen zu sagen haben.“

Unvermittelt und direkt

Der oftmals geäußerten Behauptung, wonach Tanz nicht leicht zu abstrahieren sei, kann John Neumeier kaum etwas abgewinnen. „In meinen Augen ist Tanz nicht schwer vermittelbar. Im Gegenteil, es ist jene Kunst, die dem Menschen am nächsten ist. Der Körper dient sowohl dem Tänzer als auch dem Zuschauer als Instrument, das, was ich auf der Bühne sehe, spiegelt mich wider. Ohne – als Beispiel – Chinesisch oder Ungarisch zu verstehen, kann ich direkt eine Aussage übermittelt bekommen. Das ist für mich der wichtigste Punkt im Ballett: der unmittelbare sprachlose Kontakt."

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Es ist die Persönlichkeit, die gute Tänzer ausmache. „Die Technik ist nicht besonders interessant, sie ist das Werkzeug, um etwas Wichtiges auszusagen. Bühnenpräsenz oder Charisma sind leider angeborene Fähigkeiten. Bei allen, die sie nicht haben, kann man durch präzise Korrekturen versuchen, ihre emotionalen Erinnerungen wachzurufen, sodass sie eine Rolle besser realisieren können.“

Zur Person: John Neumeier

studierte Tanz an der Royal Ballet School in London und wurde von John Cranko an das Stuttgarter Ballett engagiert, wo er auch seine ersten Choreografien schuf. Seit 51 Jahren leitet er das Hamburg Ballett, an dem er 1978 auch die renommierte Ballettschule installierte. Zu seinen berühmtesten Choreografien zählen „Romeo und Julia“, „Die Kameliendame“, „Medea“, „Odyssee“, „Messias“ und „Illusionen – wie Schwanensee“.

Nach vorne schauen

Neben der Leitung des Hamburg Balletts zählt es sicherlich zu den Lebensleistungen von John Neumeier, die daran angeschlossene Ballettschule gegründet und zu einer der international wichtigsten Ausbildungsstätten gemacht zu haben. Welchen Stellenwert hat für ihn die Lehre? „Mein Kern ist die Kreation. Daraus resultierte der Wunsch, eine eigene Compagnie zu haben, um Choreografien realisieren zu können. Und um wiederum dieses ‚Orchester‘ besser spielbar zu machen, kam die Idee, eine eigene Schule ins Leben zu rufen.“ Als deren Direktor war es ihm auch stets ein Anliegen, die Kreativität seiner Schüler zu fördern.„Nur wenn man eigenständig denkt und nicht bloß Anweisungen befolgt, kann man für Choreografen ein guter Partner sein.“

Mit dem Begriff „Legende“, als die er oft bezeichnet wird, kann John Neumeier wenig anfangen. „Das ist ein schönes Wort, über das man aber nicht nachdenken sollte. Man muss vielmehr nach vorne schauen.“ Sein tänzerisches Vermächtnis dürfte durch Ballettmeister wie Lloyd Riggins – „er ist sozusagen der Kurator meines Repertoires“ – erhalten bleiben. Ein Wunsch treibt ihn indes noch um: „Ich hätte gerne, dass die umfangreiche Sammlung, die ich über die Jahre zusammengetragen habe, in einem Institut untergebracht wird, um der Tanzforschung zur wissenschaftlichen Aufarbeitung dienen zu können.“ Es gäbe bereits entsprechende Schritte der Stadt Hamburg. „Aber ich wünschte, es könnte ein bisschen schneller gehen.“

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