Um es einfach auszudrücken: Ich erschaffe Tänze, weil ich nicht anders kann“, schrieb Paul Taylor in seinem 2008 im „Wall Street Journal“ veröffentlichten Essay „Why I make dances“. Ganz so simpel ist die Sache natürlich nicht, schließlich zählt der 2018 verstorbene Künstler mit einer Anzahl von fast 150 Stücken und seiner einzigartigen kreativen Handschrift zu den prägendsten Ballett-Choreografen der letzten Jahrzehnte. Er schrieb weiter: „Ich entwickle Tänze, weil ich an die Kraft des zeitgenössischen Tanzes glaube, an seine Unmittelbarkeit, seine Stärke, seine Universalität. Ich mache diesen Job, weil ich viele Jahre damit verbracht habe, ihn mir beizubringen, und weil es das ist, was ich am besten kann.“

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Proben zu Dornröschen

Glorioses Erwachen

Das Ballett „Dornröschen“ strahlt seit 1890 am Firmament des ­Tanzes. Nun nimmt sich Martin Schläpfer, ­Direktor des Wiener Staatsballetts, des Klassikers an. Im Stile des Regietheaters stellt er die Figuren in den Mittelpunkt, hinterfragt deren Beweggründe und ­entwickelt die Charaktere weiter. Eine sinnliche Erfahrung. Weiterlesen...

Hinter der scheinbaren Einfachheit dieser Ausführungen verbarg sich zu jenem Zeitpunkt, als Paul Taylor sie zu Papier brachte, bereits ein Pool an Erfahrungen, dessen sprudelnde Tiefgründigkeit sich kaum mit normalen Mitteln ermessen lässt. Wie auch das Wissen darüber, dass durch Tanz geschaffene Bilder sehr viel mehr Aussagekraft besitzen als zu Wörtern und Sätzen zusammengezurrte Laute und Buchstaben. „Für mich ist das Erschaffen von Choreografien immer auch ein Versuch, mit Menschen zu kommunizieren. Ein visuelles Medium kann in dieser Hinsicht sehr viel effektiver sein als Worte“, so Taylor.

Gemeinschaftsgefühl

„Paul Taylor mochte es nicht besonders, wenn die Leute über seine Arbeiten diskutierten, bevor sie die Stücke gesehen hatten. Er war der Meinung, dass er etwas falsch gemacht hätte, wenn seine Tänze einer verbalen Erklärung bedurften“, erläutert Richard Chen See. Der in Jamaika geborene Tänzer war von 1993 bis 2008 Mitglied in Paul Taylors New Yorker Dance Company. Mit Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts erarbeitet er gerade „Promethean Fire“, ein Stück Taylors, das 2002 erstmals zu sehen war und in dem Chen See auch selbst mittanzte. Ab 11. Februar ist es – gemeinsam mit einem Stück von Mark Morris und zwei Miniaturen von Martin Schläpfer – an der Wiener Volksoper zu sehen.

Es ist das erste Mal, dass ein Werk des berühmten amerikanischen Choreografen in Wien gezeigt wird. „Ich finde es wunderschön, zu beobachten, wie die Tänzer*innen des Wiener Staatsballetts ihren Wunsch nach gegenseitiger Unterstützung und ihren Sinn für echte Kameradschaft ins Erlernen dieses Tanzes einbringen“, merkt Richard Chen See an. Dem ehemaligen Tänzer, Repetitor, Coach und begeisterten Kajakfahrer ist es wichtig, jede Tänzerin und jeden Tänzer sowohl als strahlendes Individuum wie auch als wertvollen Puzzlestein innerhalb des Ensembles zu sehen.

Mit dem Auge eines Malers

Um das Verhältnis zwischen individueller Strahlkraft und dem Verlangen danach, einer Gemeinschaft anzugehören, geht es auch in „Promethean Fire“. „Der Tanz ist eine visuelle Metapher dafür, wie sich eine Gesellschaft verändert und schließlich erneuert“, sagt Richard Chen See. „Im ersten Teil der Choreografie gibt es sowohl in der Architektur der Bewegungen als auch in den flüchtigen Paarungen der Tänzer*innen eine Art binäre Struktur, die ein Gefühl von Intimität und Vertrautheit erzeugt. Das Herzstück des Tanzes ist ein Duett, in dem sich die Beziehung zwischen einer Frau und einem Mann in den körperlichen Kämpfen, der Abhängigkeit und dem Vertrauen widerspiegelt, die einer Partnerschaft innewohnen. Der abschließende Teil vermittelt ein kollektives Gefühl des Zusammenkommens, das notwendig ist, um eine Gemeinschaft wieder aufzubauen.“

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Als Repetitor studiert Chen See die Stücke Paul Taylors mit Ensembles auf der ganzen Welt ein. Die Arbeit ist eine Gratwanderung zwischen dem Bestreben, das Beste aus den Tänzer*innen herauszuholen, und der Intention, die Absicht hinter den einzelnen Schritten und Abfolgen zu berücksichtigen. Kurz: jene Kunst, die aus dem Vermögen seines ehemaligen Ballettdirektors entstand, „Stücke mit dem Auge eines Malers für Komposition und dem Gespür eines Dichters für Ton und Atmosphäre“ zu erschaffen.

Richard Chen See

Vom aktiven Tänzer zum Coach. Während seiner Zeit als aktives Mitglied der Paul Taylor Dance Company tanzte Richard Chen See selbst in „Promethean Fire“. Sich das Stück ertanzt zu haben hilft ihm bei der Einstudierung des Werkes mit dem Wiener Staatsballett. Im Bild ist er mit der Tänzerin Amy Young zu sehen. Foto: Paul B. Goode

Klingt alles andere als einfach? Ist es auch nicht. Bei der Vermittlung komplexer Bewegungsabläufe hilft Richard Chen See allerdings, dass er weiß, wie sich das Stück als Tänzer anfühlt. Bei tänzerischen Problemstellungen, die sich verbal nur schwer auflösen lassen, greift er auf intuitives Wissen zurück. Welche Herausforderungen „Promethean Fire“ für die Tänzer*innen mit sich bringt, möchten wir zum Abschluss wissen. „Viele von Paul Taylors Tänzen wirken auf den ersten Blick täuschend einfach. Aber der Teufel steckt im Detail“, antwortet er.

Und da ist sie wieder, die scheinbare Einfachheit, hinter der sich ein Meer aus fein geschliffenen Details auftut, in das es sich definitiv einzutauchen lohnt. Wer sich darauf einlässt, wird nicht nur mit Bildern, die mehr als tausend Worte sagen, sondern auch mit unerwarteten Klängen aus der Tiefe der künstlerischen Schatzkiste Paul Taylors belohnt. „Seine Arbeiten haben das Potenzial, die Zuschauer*innen dazu zu bringen, die Musik anders zu hören, als sie es ohne seine Bilder tun würden. Die Tänzer*innen verleihen ihr eine visuelle Dimension, die zwar unerwartet ist, gleichzeitig aber unvermeidlich erscheint.“

Zu den Spielterminen von „Promethean Fire“ in der Volksoper Wien!