In Wien hatte es Charles Gounods „Faust“ nicht immer leicht. 1984 ließ Kino-Schreck Ken Russell Marguerite als Nonne antanzen. Von der Neuproduktion 2008 blieb nach Erkrankung des Regisseurs eine trostlose Stehpartie. Das ändert sich jetzt dramatisch mit Frank Castorfs gefeierter Inszenierung aus Stuttgart. Die Marguerite singt ­Nicole Car. Die australische Sopra­nistin kennt man bereits in Wien. Kurzfristig eingesprungen, feierte sie im Oktober als Tatjana in „Eugen ­Onegin“ ihr glanzvolles Debüt.

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Die Geschichte, wieder jung zu sein, geht jeden an. Jeder sucht nach Unsterblichkeit."

Nicole Car

In Österreich ist Goethes „Faust“ Schullektüre. Wie geht’s „Faust“ in Australien?

Nicole Car: Es ist ziemlich bekannt. Die Stücke von Goethe sind ja weltberühmt – und der „Faust“ im Speziellen. Die Geschichte, wieder jung zu sein, geht jeden an. Jeder sucht nach Unsterblichkeit. 

Ein Höhepunkt ist die „Juwelen-Arie“, wenn Marguerite die ihr
von Méphistopélès zugespielten Juwelen bestaunt. Lassen Sie sich gerne von Schmuck verführen?

Nicole Car: Ich glaube, Marilyn Monroe hatte nicht ganz unrecht, als sie „Diamonds Are a Girl’s Best Friend“ gesungen hat. Es ist doch immer etwas Spezielles, wenn jemand an einen denkt und man Geschenke bekommt. 

Marguerite als Opfer und Wahnsinnige

Wie naiv ist Marguerite?

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Nicole Car: Es wäre falsch zu glauben, dass sie etwas anderes als naiv ist. Das macht sie wahrscheinlich auch so attraktiv für Faust. 

Marguerite erlebt ein kurzes Glück, dem der Abstieg folgt: Sie wird verlassen, bringt ihr Kind um und stirbt …

Nicole Car: … und nicht zu vergessen, dass sie auch noch von ihrem sterbenden Bruder Valentin verflucht wird! Ja, es ist eine Tragödie. Sie ist ein echtes Opfer. 

Sie sind selbst seit kurzem Mutter. Wie geht es Ihnen damit, eine Kindsmörderin spielen zu müssen? 

Nicole Car: Es ist der härteste Teil der Geschichte für mich. Ich verstehe ihre Unschuld, ihre Naivität, ihre Sehnsucht, geliebt zu werden, aber dem Wesen zu schaden, das man selbst auf die Welt gebracht hat? Sie ist für mich dem Wahnsinn verfallen, denn niemand mit einem gesunden Verstand schafft so etwas. 

Ihr Mann, Étienne Dupuis, meinte kürzlich, der Umstand, dass sich manche Regisseure gerne zu wichtig nehmen, macht vieles zu aufwendig, zu teuer. Wie ist Ihre Sicht? 

Nicole Car: Ich denke, solange es eine entsprechende künstlerische Absicht dahinter gibt, sind die Kosten gerechtfertigt. Ich habe kürzlich den Livestream der neuen „Aida“ in Paris gesehen. Es ist eine wirklich subversive Interpretation, aber ich mochte sehr, was die Regisseurin (Lotte de Beer, designierte Volksoperndirektorin, Anm.) damit sagen wollte, auch die vielen historischen Referenzen.

Castorfs neue Welt

Wie sehr fehlt Ihnen das Publikum? 

Nicole Car: Es fehlt uns absolut. Es ist ein Geben und Nehmen, wir wollen mit dem Publikum kommunizieren. Aber ich vermisse auch die Musik. Vor allem selbst im Publikum zu sitzen und zuzuhören! 

Wie ist die Situation in Australien? 

Nicole Car: Die haben großes Glück. Australien ist eine Insel. Es gab nur wenige Fälle. Man war sehr schnell und streng mit Lockdown und Quarantäne. Manchmal muss man noch Maske tragen, aber sonst ist alles offen. Australien ist eines der wenigen Länder, die Theater spielen. 

Sie arbeiten zum ersten Mal mit Frank Castorf, der Live-Kameras einsetzt, zusammen. Wie, glauben Sie, geht er mit Gounod um, der Goethe stark verkürzt hat?

Nicole Car: Vor allem ist Gounod so religiös. Dass Marguerite am Ende Erlösung findet, darauf ist er total fokussiert. Ich habe mir Castorfs Bayreuther „Ring“ im TV angeschaut, war fasziniert und habe es sehr gemocht. Er versetzt alles tatsächlich in eine ganz neue Welt, weit entfernt von jeder traditionellen Vorstellung. Auf die vielen Close-ups der Kameras bin ich schon gespannt. Da mach ich mir ein wenig Sorgen. (Lacht.) 

Stimmt es, dass Sie in der Schule Jazz gesungen haben, dann Puccinis „Tosca“ sahen und daraufhin beschlossen, Opernsängerin zu werden? 

Nicole Car: Ja! „Tosca“ steht definitiv auf der Liste jener Rollen, die ich unbedingt machen möchte. Ich würde auch gerne meinen Mann dazu überreden, den Scarpia zu singen. Zunächst ist aber im September meine erste Liù in „Turandot“ in New York geplant, außerdem viel Verdi. Doch die Welt ändert sich – und wer weiß …

Zur Person: Nicole Car

Als Tatjana, Violetta, Mimì, Elvira oder Micaëla hat Nicole Car die großen Opernbühnen zwischen New York, Paris, ­London, Berlin, München und Wien erobert. Demnächst stehen für die 36-Jährige große Verdi-Rollen wie ­Leonora („Il trovatore“) und ­Elisabetta („Don Carlo“) an. 

Aktuelle Informationen der Wiener Staatsoper

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Bilder der Verwandlung: Simon Annands Theaterfotografie