In der langen Liste an Tonaufnahmen, die auf meinem Smartphone gespeichert sind, befindet sich derzeit ein Eintrag mit dem Namen „Mülheimer Freiheit“ ganz oben. Das hat nichts mit irgendeiner schrägen Art von Ranking zu tun, sondern ist schlichtweg der Chronologie der Aufnahmen geschuldet. Wie auch meiner Faulheit, die gespeicherten Files so zu benennen, dass sie deren Inhalte auf sinnvolle Weise widerspiegeln. „Interview mit Stefan Bachmann“ wäre in diesem Fall naheliegend gewesen, denn hinter „Mülheimer Freiheit“ verbirgt sich genau das – ein Gespräch mit dem Regisseur und Intendanten des Schauspiel Köln, geführt an einem regnerischen Tag im Jänner am Gelände des ehemaligen Carlswerks, wo das Schauspiel seit fast einem Jahrzehnt beheimatet ist.

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Findige Köln-Kenner*innen werden es sofort bemerkt haben: Das Carlswerk und die Mülheimer Freiheit, die entlang des Rheins verläuft, liegen gar nicht unmittelbar nebeneinander. Allerdings hätte die geografische Fehlzündung des Smartphone-Computers aber kaum passender ausfallen können. Denn die Aufnahme mit der unabsichtlichen Bezeichnung „Mülheimer Freiheit“ transportiert tatsächlich so etwas wie ein Freiheitsgefühl. Eines, das sich Stefan Bachmann, der ab der Spielzeit 2024/25 das Wiener Burgtheater übernimmt, zusammen mit seinem Team allerdings hart erarbeiten musste, denn eine freie Halle verwandelt sich nicht von heute auf morgen in kreativen Freiraum für Theaterschaffende. Nicht einmal dann, wenn die beste Illusionsmaschinerie der Welt ihr gesamtes magisches Potenzial entfaltet.

Ein Theater musste her

Wie das mit der Freiheit, den Freiräumen und der freien Halle gemeint ist, wird klarer, wenn man sich zunächst einige Fakten zur in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlichen Lage des Kölner Theaters ansieht: Umfassende Renovierungsarbeiten machten es notwendig, das Schauspiel Köln im Jahr 2012 aus der angestammten denkmalgeschützten Spielstätte am Offenbachplatz auszuquartieren. Bis zum Ende der Spielzeit 2012/2013 bespielte man die Expo XXI am Gladbacher Wall, musste dort allerdings wieder ausziehen.

Stefan Bachmann
Alles andere als abgehoben. Die Verspieltheit und Offenheit, die seine Inszenierungen auszeichnen, hat sich Stefan Bachmann auch als Mensch bewahrt.

Alles andere als abgehoben. Die Verspieltheit und Offenheit, die seine Inszenierungen auszeichnen, hat sich Stefan Bachmann auch als Mensch bewahrt. Foto: Heide Prange

Als Stefan Bachmann das Haus von Karin Beier übernahm, tat er das also ohne feste Spielstätte. Das bedeutete: Ein Theater musste her – und zwar schnell. Fündig wurde er schließlich im Kölner Stadtteil Mülheim, auf dem Gelände des Carlswerks, einer ehemaligen Produktionsstätte für Kabel, Seile und Drähte. Unter immensem Zeitdruck fiel schließlich die Entscheidung, die auf den ersten Blick völlig überdimensionierte Halle auf der sogenannten falschen Rheinseite in ein Theater zu verwandeln. Alteingesessene Kölner*innen warnten den gebürtigen Zürcher damals davor, sein Theater dort anzusiedeln. „Der Stadtteil galt als Brennpunkt, man brachte ihn zu diesem Zeitpunkt immer noch mit dem von der NSU verübten Nagelbombenattentat von 2004 in Verbindung“, erklärt Stefan Bachmann, dem keine Zeit blieb, die Vorurteile gegenüber dem Kölner Stadtteil in ihrer vollen Dimension zu durchleuchten. „Zum Glück, kann ich heute sagen. Sonst hätte ich es vielleicht nicht gemacht.“

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Bis 2015 hätte das Schauspiel in der Ausweichspielstätte in Mülheim bleiben sollen, doch der geplante Wiedereinzug scheiterte. „Für den Betrieb war das auch in Sachen Motivation eine große Belastungsprobe“, resümiert der Intendant. Die Bedingungen, unter denen in der damals noch als Interim verstandenen Halle Theater gemacht wurde, seien nämlich von Anfang an höchst fragwürdig gewesen, so Bachmann. „Die Schauspieler*innen haben sich auf dem harten Stahlbetonboden die Gelenke ruiniert und sich wegen der schlechten Akustik die Seele aus dem Leib geschrien. Auch die Gewerke haben unter sehr hanebüchenen Bedingungen gearbeitet – die Maskenabteilung musste das Wasser in Eimern zum Bühnenrand schleppen, der Stellwerker saß im Sommer bei 40 Grad unter dem Dach.

Es war unerträglich, aber man wusste, irgendwann ist es durchgestanden, und dann ziehen wir wieder um.“ Als klar wurde, dass der Einzug nicht wie geplant stattfinden konnte, setzte sich Stefan Bachmann noch am selben Tag mit dem Technischen Leiter des Theaters zusammen. „Ich habe zu ihm gesagt, dass wir ab jetzt jeden einzelnen Euro, der uns zur Verfügung steht, in die Verbesserung dieser Zustände investieren, egal wie die Perspektive ist.“ Zu diesem Zeitpunkt konnte noch niemand ahnen, dass das Schauspiel noch weitere neun Jahre in Mülheim bleiben würde.

Es gibt nur die Gegenwart

Aktuell ist der Wiedereinzug ins Haus am Offenbachplatz für Herbst 2024/25 geplant. Zu diesem Zeitpunkt wird Stefan Bachmann schon in Wien sein. Aber das ist alles Zukunftsmusik, von der Bachmann damals – also 2015 – überhaupt nichts mehr hören wollte. „Mir wurde plötzlich klar: Es gibt nur die Gegenwart und kein ‚wenn wir dann einmal irgendwann umgezogen sein werden‘. Theater findet immer genau dort statt, wo es eben stattfindet – und auch genau in diesem Augenblick.“ Nachdem festgestanden war, dass sich der Wiedereinzug auf unbestimmte Zeit verschieben würde, setzte er sich sofort mit allen Abteilungsleiter*innen an einen Tisch. Die Drastik der Situation unterstreichend, lautete das Motto der Besprechung: „Wie überleben wir das Interim?“ Daraufhin wurden Priorisierungslisten erstellt, wurde gehämmert und geschraubt, Know-how ausgetauscht. Anstelle von Sammelgarderoben entstanden voneinander abgetrennte Garderobenräume, eine Obermaschine wurde gebaut und die Akustik verbessert.

Stefan Bachmann
Für die Fisch’ … war nichts von dem, was an den beiden Spielstätten Depot 1 und Depot 2 in die Arbeit gesteckt wurde. Die Halle im Carlswerk sei nun ein eingespielter Ort, ist Stefan Bachmann überzeugt.

Für die Fisch’ … war nichts von dem, was an den beiden Spielstätten Depot 1 und Depot 2 in die Arbeit gesteckt wurde. Die Halle im Carlswerk sei nun ein eingespielter Ort, ist Stefan Bachmann überzeugt. Foto: Heide Prange

„Mit der Zeit ist aus der Belastungsprobe etwas entstanden, das ich als sehr kreativen und teambildenden Zustand zu verstehen begann“, sagt Bachmann. Außerdem habe dadurch, dass die Dinge nicht selbstverständlich zur Verfügung standen, eine höhere Wertschätzung und ein größeres Bewusstsein dafür eingesetzt, was alles zu einem funktionierenden Theaterbetrieb dazugehört. „Nach und nach haben wir uns diesen Raum erobert und gelernt, mit seinen ganz spezifischen Möglichkeiten umzugehen“, bringt es der Intendant auf den Punkt. Schmunzelnd fügt er hinzu: „Und in den letzten Jahren auch künstlerisch ordentlich einen draufgemacht.“ Dabei machte man sich unter anderem die immense Breite des Depot 1, der größeren der beiden Spielstätten, zunutze. „Wir sind schon mit Lastwägen in die Halle hineingefahren, haben Eisenbahnschienen verlegt und einen sieben Meter hohen Berg aus Lehm aufgeschüttet. Das hält kein normaler Bühnenboden aus.“

Mir wurde plötzlich klar Es gibt nur die Gegenwart.

Stefan Bachmann über die Herausforderungen des verschobenen Wiedereinzugs

Wer braucht schon eine Unterbühne, wenn nach oben hin alles offen ist? Sprichwörtlich, nicht buchstäblich natürlich, denn ein funktionierendes Dach gibt es im ewigen Provisorium (mittlerweile).

Ein eingespielter Ort

In Mülheim begann man auch, den Begriff Stadttheater neu zu definieren – als Theater, das nicht nur für die Stadt, sondern auch in einem gemeinsamen Prozess mit der Stadt entsteht. „Ausweichspielstätte“ bedeutete nämlich nicht, dass man den Themen, die den Stadtteil umtreiben, ausweichen möchte. Ganz im Gegenteil. Mit einem offenen Ohr und einer großen Sensibilität auf die Stadtgesellschaft – vor allem auf die direkte Umgebung – zuzugehen, habe sehr dabei geholfen, Hemmschwellen und Schwellenängste abzubauen, ist sich Stefan Bachmann sicher. „Uns war wichtig, dass sich die Menschen nicht angeschrien, sondern angesprochen und angenommen fühlen.“

Dialoge mit der Stadt führte Stefan Bachmann auch schon während seiner Schauspieldirektion in Basel, die er 1998 als erst 32-jähriger Regisseur antrat. „Mit unserer Ästhetik, Sprache und Respektlosigkeit gegen-über Klassikern haben wir das Baseler Publikum damals ziemlich herausgefordert, teilweise sogar überfordert. Weil irgendwann merklich weniger Menschen ins Theater kamen, haben wir eine Diskussionsveranstaltung aufgezogen, die wir ‚Da geh ich nicht mehr hin‘ genannt haben.

Mehr als tausend Menschen kamen daraufhin ins große Baseler Foyer, um uns zu erzählen, warum sie nicht mehr ins Theater gehen. Das war hart, aber in Nachhinein betrachtet auch unglaublich wichtig.“ Eine Vorgehensweise, bei der sich schon damals herauskristallisierte, worin für den 1966 geborenen Theatermacher der Kern vom Theater besteht: im Dialog. Genauer: in der Möglichkeit, über konträre Positionen hinweg zu einer Verständigung zu kommen. Darüber hinaus hilft es, sich eine gewisse Dickfelligkeit zuzulegen, ist Stefan Bachmann überzeugt. „Denn die Liebe des Publikums muss man sich als Intendant in der Regel hart erarbeiten – das wird auch in Wien so sein.“

Pressekonferenz
Die Verkündung. Andrea Mayer, Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Stefan Bachmann und Christian Kircher, Chef der Bundestheater Holding, bei der Pressekonferenz am 21. Dezember.

Die Verkündung. Andrea Mayer, Staatssekretärin für Kunst und Kultur, Stefan Bachmann und Christian Kircher, Chef der Bundestheater Holding, bei der Pressekonferenz am 21. Dezember. Foto: Andreas Jakwerth

Selbiges galt – vor allem in der Anfangsphase – auch für seine Kölner Intendanz. In eine spürbar positive Richtung veränderte sich das Ganze allerdings mit der Uraufführung von „Die Lücke“: ein Stück, das Nuran David Calis anlässlich des zehnten Jahrestags des Nagelbombenattentats auf die Bühne brachte. Laien aus der Keupstraße spielten Seite an Seite mit Ensemblemitgliedern. An die Premiere schloss sich ein zweitägiges Festival mit dem Namen „Birlikte“ (Türkisch für „zusammen“) an, zu dessen Hauptorganisatoren das Schauspiel gehörte. „Der Erfolg des Festivals hat die Stimmung in der Stadt in Bezug auf das Schauspiel total verändert“, so Bachmann. Auf nachhaltige Weise.

Durch das Dasein des Schauspiels hat sich der gesamte Bezirk weiterentwickelt.

Stefan Bachmann, Intendant

Umso schlimmer fände es der Intendant, wenn die umgebaute Halle nach dem Umzug nicht als Kulturstandort erhalten bliebe. „Das ist ein eingespielter Ort, den man in der Stadt gelernt hat und der mit positiver Energie angefüllt ist. Durch das Dasein des Schauspiels hat sich der ganze Bezirk weiterentwickelt. Ich hätte mir davor nie gedacht, dass Kultur so etwas kann.“ Wie es mit den beiden Depots und den anderen Räumlichkeiten weitergeht, ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs noch nicht geklärt. Für das Überleben eines Bestandteils des Gesamtkonstrukts Schauspiel Köln sei jedoch unabhängig von der Entscheidung bereits gesorgt worden, sagt Bachmann und zeigt auf einen riesigen schwarzen Behälter, der das den beiden Depots vorgelagerte Urban-Gardening-Projekt „CARLsGARTEN“ vollständig autonom mit gespeichertem Regenwasser versorgt. In den wärmeren Jahreszeiten spiegelt sich hier auf bunte, surrende und flirrende Weise wider, was das Theater im besten Falle ist: ein Biotop der Ideen.

Hemmschwellen abbauen

Bei all seiner fast kindlichen Neugierde und schier unendlichen Begeisterungsfähigkeit ist Stefan Bachmann pragmatisch genug, um zu wissen, dass sich das in Köln Erlernte nicht einfach dem Burgtheater überstülpen lässt. Für eine größere Durchlässigkeit zu sorgen ist dennoch eines jener großen Anliegen, mit denen er im Herbst 2024 nach Wien kommt. Unterschiedliche Möglichkeiten zu finden, um einen Ort, „der schon als Burg bezeichnet wird“, möglichst allen Menschen zugänglich zu machen, hält er für eine spannende, aber auch ungemein schwierige Aufgabe. „Das ist nicht einfach mit ein paar Formaten bewerkstelligt“, hält er ohne große Umschweife fest.

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Der Theaterzauberer Herbert Fritsch inszeniert Ferdinand Raimunds völlig durchgedrehtes Stück „Die gefesselte Phantasie“: bunt, hysterisch und voller Poesie. Wir haben bei der ersten Leseprobe vorbeigeschaut und verraten einige Details. Weiterlesen...

„Obwohl es so kaiserlich-feudalistisch daherkommt, ist das Burgtheater aber auch eine Institution, die von jenen Menschen finanziert wird, die in der Stadt leben. Daher gehört es auch allen. Das möchte ich deutlich machen und gleichzeitig gewisse Traditionen bewahren. Darüber, wie sich dieser Bogen schlagen lässt, denken wir gerade sehr viel nach.“ Dieses „wir“ sei im Übrigen kein Pluralis Majestatis, sondern deshalb die akkuratere Form, weil Theater, so Bachmann, nicht im Kopf des Intendanten, sondern im Dialog mit dem Team entsteht. Ersteres wäre im Falle des auf den ersten Blick entspanntesten Theaterintendanten im deutschsprachigen Raum auch nur sehr schwer vorstellbar gewesen.

Die Frage, ob er auf das in Köln Erreichte stolz sei, beantwortet er nicht mit Koketterie, sondern mit größtmöglicher Ehrlichkeit. „Stolz ist auch eine Wertschätzung sich selbst gegenüber, sollte aber nicht zum Dauerzustand werden. Das wäre katastrophal. Aber ja, ich kann sagen, dass ich stolz darauf bin, was wir hier geschafft haben. Und im nächsten Moment bin ich sehr demütig dem gegenüber, was jetzt kommt. Weil ich weiß, dass es schwierig wird.“

Ich kann nicht sagen, in welche Richtung sich das Theater verändert, aber ich habe keine Angst um das Theater.

Stefan Bachmann, Regisseur und Intendant des Schauspiel Köln

Um das Theater selbst macht sich Stefan Bachmann allerdings keine Sorgen. Er sagt: „Theater findet immer statt und hat immer schon stattgefunden. Ich habe tatsächlich wenig Angst vor Veränderung. Sie gehört zur Kunst dazu. Ich kann nicht sagen, in welche Richtung sich das Theater verändert, aber ich habe keine Angst um das Theater.“ Veränderung sei schließlich immer auch Lebendigkeit, merkt er abschließend an. Und ohne Lebendigkeit gibt es – so banal das auch klingt – kein Theater.

Wir verabschieden uns. Zum Regen haben sich schneidende Böen dazugesellt. „Der Wind der Gegenwart zieht in die Halle hinein“, hat Stefan Bachmann in einem Interview einmal über das Schauspiel Köln gesagt und das glücklicherweise nicht wortwörtlich gemeint. Zu diesem Zeitpunkt lief der Laden nämlich schon längst auf Betriebstemperatur. Und die dürfte an diesem Ort auch bei kalten Außentemperaturen konstant hoch sein.

Zur Person: Stefan Bachmann

Stefan Bachmann begann seine Theaterkarriere als Teil der Theatergruppe „Theater Affekt“. Er hospitierte bei Luc Bondy, inszenierte unter anderem am Schauspielhaus Wien und 1997 bei den Salzburger Festspielen. Von 1998 bis 2003 war er Schauspieldirektor am Theater Basel. Für die Inszenierung von Wajdi Mouawads „Verbrennungen“ am Wiener Akademietheater wurde er 2008 mit einem NESTROY ausgezeichnet. Seit 2013 leitet er das Schauspiel Köln.