Temperamentvoll. Energiegeladen. Aktiv. So lautet die Definition von Wirbelwind, wenn man ihn nicht als Wetterphänomen, sondern als Person begreift. Bei Patricia Nessy gesellt sich zur ansteckenden Dynamik eine überzeugende Herzlichkeit, die in unverstellte, ehrliche Antworten mündet.

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„Ich trage mein Herz auf der Zunge“, bekennt sie freimütig.„Deshalb verstehe ich es auch nicht, wenn mir jemand sagt, die Rolle der Madame Giry sei ganz auf mich zugeschnitten. Nichts ist weiter weg von mir als der Charakter dieser Frau. Das Einzige, was wir vielleicht gemeinsam haben, ist die Disziplin.“ Die perfekte Besetzung für diese undurchsichtige Figur, die das Phantom bewundert, es als Einzige von früher zu kennen scheint und den Weg hinunter in dessen selbst gewähltes Verlies weiß, ist sie dennoch.

„Natürlich macht es großen Spaß, das Dunkle, Geheimnisvolle, das Madame Giry wie eine Aura umgibt, auszureizen und darzustellen.“

Deren Geschichte habe sie sich, in vielen Gesprächen mit Regisseur Seth Sklar-Heyn, der sie klug zu eigenen Schlüssen geleitet habe, selber zusammengebaut. „Denn vom Textbuch her ist ihre Psychologie nicht ganz klar. Ich muss aber wissen, wo ich herkomme und aus welchem Grund ich bestimmte Handlungen setze. Eine Figur zu formen, ist in unserem Beruf ohnehin das Spannendste. Je älter man wird, desto kleiner werden meist die Partien, die dann oft auch nicht mehr eindeutig gezeichnet sind. Also muss man ihnen ‚Fleisch‘ geben. Man wird vom Publikum nämlich auch in Nebenrollen gesehen – und es macht großen Spaß, auch aus diesen etwas zu machen.“

Patricia Nessy
Fast täglich live on stage. Von links: Patricia Nessy (Madame Giry), Laura M. Croucher (Meg Giry), Roy Goldman (Raoul), Milica Jovanović (Carlotta Giudicelli) und Rob Pelzer (Monsieur André).

Foto: Deen van Meer/ VBW

Alternativloses Hochgefühl

Sechsmal pro Woche im gleichen Stück aufzutreten, kann anstrengend und vielleicht auch eintönig sein. Wie bleibt Patricia Nessy so konstant motiviert?

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„Das ist nicht schwer. Ich komme am Abend ins Theater und warte darauf, dass mir diese unfassbar schöne Perücke auf den Kopf gesetzt wird. Das ist für mich beinahe wie ein heiliger Moment der Verwandlung. Manchmal singt man sich satt an einer Figur, aber bei diesem Stück passiert das nicht. Mir ist auch bewusst, dass wir jeden Abend ein neues Publikum haben, das völlig zu Recht ein engagiertes Ensemble erwartet. Wenn ich auf der Bühne stehe, egal in welcher Rolle, empfinde ich sowieso ein Hochgefühl. Früher habe ich sogar gesagt, dass ich nur für die Bühne lebe, was mir als Aussage heute zu traurig ist. Aber die Bühne erfüllt mich, ich fühle mich frei und empfinde Freude.“

Wie für die meisten Menschen sei Musik auch für sie ein Ausdruck von Emotionalität und ein Motor für bereits vorhandene Stimmungen. „Ich kann mit Musik richtig wegdriften. Früher habe ich viel Klavier gespielt, und wenn bei Bach jemand ins Zimmer kam, bin ich regelrecht erschrocken, weil ich rund um mich nichts mehr wahrgenommen habe. Wenn ich Mahler höre, laufen mir bei offenen Augen die Tränen hinunter. Nicht, weil ich traurig bin, sondern weil es mich berührt. Musik hat etwas Reinigendes.“

Hätte es für sie demnach überhaupt eine Möglichkeit gegeben, sich gegen diesen Beruf zu entscheiden?

„Wenn ich meinen Eltern etwas vorwerfe, dann, dass sie mir keine Alternative aufgezeigt haben. Aber vielleicht ist das auch absurd, denn ich habe die Bühnenluft geliebt. Mein Vater war Bassbariton aus Wien, meine Mutter Mezzosopran und sechsundzwanzig Jahre lang an der Stuttgarter Staatsoper engagiert. Ich bin backstage aufgewachsen. Als Kind war ich furchtbar, laut, unerträglich. Wenn Besuch kam, musste ich mich in Szene setzen, weshalb es schon damals immer hieß, ich gehöre auf die Bühne. Meine Großmutter, eine Wienerin, die das Theater und die Oper liebte, hat das auch sehr unterstützt. Ich wusste gar nicht, dass es auch noch andere Möglichkeiten gegeben hätte, und kann nichts anderes als Hopsasa und Trallala.“

Patricia Nessy
„Manchmal singt man sich satt an einer Figur, aber bei diesem Stück passiert das nicht.“ Patricia Nessy, Sängerin

Foto: Stefan Fürtbauer

Erfahrungswertvolle Nase

Gerade in der Pandemie habe sie sehr mit dem Beruf gehadert und sogar überlegt, eine Ausbildung für Innenraumgestaltung zu beginnen. „Auch das Unterrichten an der MUK habe ich regelrecht infrage gestellt, weil ich es für unverantwortlich hielt, junge Menschen zu ermutigen, in dieses Business zu gehen. Später ist mir wieder klar geworden, dass es die Kultur ist, die den Menschen erst ausmacht. Jetzt bin ich wieder stolz darauf, Künstlerin zu sein und das auch weiterzugeben. Aber das war ein Prozess.“

Was möchte sie ihren Studierenden vorwiegend vermitteln?

„Selbstvertrauen. Es ist erschreckend, wie wenig manche davon haben. Viele haben Angstzustände und Selbstzweifel, weil sie glauben, nicht zu genügen. Ich versuche, ihnen auch zu transportieren, dass Fehler, Versagen und Scheitern sehr wichtig sind, weil man aus solchen Erfahrungen gestärkt hervorgeht. Gewisse Talente sind gottgegeben, aber 90 Prozent kann man erarbeiten. Das ist doch eine gute Nachricht. Ich habe lange unter meiner großen Nase gelitten. Mir hat am Konservatorium eine damals wichtige Agentin gesagt, ich müsste sie mir operieren lassen, sonst würde ich es höchstens in der Provinz schaffen. So etwas trägt man dann möglicherweise das ganze Leben mit sich herum. Heute liebe und feiere ich meine Nase, weil sie mir Charakter verleiht.“ Und karrierehinderlich war sie auch nicht.

Patricia Nessy
Patricia Nessy stammt aus Trier, absolvierte das Konservatorium der Stadt Wien und spielte bisher mehr als 50 Rollen aus Oper, Operette und Musical. Zu ihren wichtigsten zählen Sally Bowles, Hanna Glawari, Evita, die Königin der Nacht und Elisabeth. Konzertreisen führten sie u. a. in die Carnegie Hall und die Royal Albert Hall. Zudem unterrichtet sie musikdramatische Darstellung und Gesang an der MUK.

Foto: Stefan Fürtbauer

Klarer Appell

Wie schafft man es, sich 37 Jahre lang an der Spitze zu halten? „Das habe ich mich auch schon oft gefragt“, sagt Patricia Nessy und lacht. „Man muss sicherlich neugierig bleiben, lernen, sich weiterbilden, auch die Stimme neu ausprobieren.

Wer hätte, als ich jung war, gedacht, dass es in dem Genre Stücke geben würde, bei denen man Riffs singt wie Christina Aguilera? Oder rappt wie in ‚Hamilton‘? Das Musical entwickelt sich weiter, also muss man auch selbst am Ball bleiben.“

Eine Tatsache störe sie allerdings: „Dass es für Frauen über vierzig kaum noch Rollen gibt. Plötzlich ist man für die Junge zu alt und für die Alte zu jung und fällt in ein Loch. Das ist in der Branche ein Tabuthema, das man besprechen sollte. Ich hatte ein Schlüsselerlebnis, als ich bei einer Audition in Hamburg war, wo all die Frauen meines Alters, die im Musical überlebt haben, um eine einzige Rolle gekämpft haben. Man muss bei derartigen Vorsingen immer lange warten, also kamen wir ins Reden und waren uns bald einig, dass man über exakt so eine Situation ein Musical schreiben sollte. Es müsste ‚Wahnsinnsfrauen‘ heißen.“

Über fünfzig Rollen in Oper, Operette und Musical verkörpert zu haben, ist eine Glanzleistung. Gibt es trotzdem Partien, die sie noch in ihr Repertoire aufnehmen möchte? „Ja, ich würde gerne die Pastetenbäckerin in ‚Sweeney Todd‘ und Mrs. Peachum in der ‚Dreigroschenoper‘ spielen. Dann hätte ich in beiden Stücken alle weiblichen Rollen durch. Und natürlich Norma Desmond in ‚Sunset Boulevard‘. Das wär’s.“

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