BÜHNE: Sie wurden in Weiden in der Oberpfalz geboren. War es von dort ein langer Weg ans Theater?

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Martina Stilp: Ja. Weil es dort nämlich kein Theater gab und ich aus einer Familie komme, wo Theater auch gar nicht relevant war. Es gab in Weiden eine Stadthalle, in die ab und an Schauspielinszenierungen eingeladen wurden, und da war ich bei jeder im Publikum. Der Wunsch, auf die Bühne zu gehen, wurde, als die Berufswahl nach dem Abitur relevant wurde, so stark, dass ich mich an verschiedenen Schauspielschulen beworben und es dann wirklich aus Weiden heraus nach München geschafft habe.

Nach Ihrem Abschluss an der Otto-Falckenberg-Schule waren Sie u.a. in Augsburg engagiert. Wie hat es Sie nach Österreich verschlagen?

Durch ein Engagement. Ich wurde zuerst direkt von der Schauspielschule nach Augsburg engagiert, weil dort eine Schauspielerin mitten in der Spielzeit ausgefallen war. Ich hatte während der Schauspielausbildung ein Stipendiums-Vorsprechen, und in dieser Jury saß der damalige Intendant von Augsburg. Er hat in meiner Schule angerufen und gemeint, wenn Frau Stilp will – da war ich quasi am Beginn meines vierten Ausbildungsjahres, da ist man eigentlich fertig mit der Ausbildung, kann die Lehrer aber noch kostenlos nutzen –, kann sie sofort bei mir anfangen.

Ich habe dann mit meinen Lehrern geredet, weil man von der Falckenberg-Schule nicht unbedingt direkt nach Augsburg will, aber sie haben mir zugeraten. Denn man hat mir tolle Rollen angeboten, ich konnte spielen, der Rat lautete aber auch, nach zwei Jahren wieder wegzugehen. Und so war es auch. Im zweiten Jahr habe ich mit einem Regisseur gearbeitet, der meinte, er kenne Matthias Fontheim und wisse, dass dieser gerade sein Ensemble für das Schauspielhaus Graz zusammenstelle. Und er hat ihn in eine Endprobe hineingesetzt, wovon ich nichts wusste. Fontheim hat mir am nächsten Tag auf den Anrufbeantworter gesprochen, dass er mich gerne für ein Vorsprechen einladen würde. So bin ich von Augsburg nach Graz gekommen.

”Im Lockdown habe ich viel im Josefstadt-Buch gelesen und mich mehr und mehr mit der Historie des Hauses beschäftigt. Für mich macht dieses Haus seine Geschichte aus, und jeder und jede, der oder die dort arbeitet, macht mein Theaterleben aus."

Martina Stilp

Von dort ging es ans Volkstheater – und seit 2015 sind Sie Ensemblemitglied am Theater in der Josefstadt. Was macht für Sie dieses Wiener Traditionshaus aus?

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Als ich noch in Augsburg engagiert war, bin ich zu den Wiener Festwochen gefahren, um mir eine Peter-Stein-Inszenierung anzuschauen. Da war ich zum ersten Mal im Theater in der Josefstadt und dachte, mein Gott, das ist ja ein unglaublich schönes Theater. Hierher werde ich es wohl nie schaffen! Das war mein erster Eindruck. Damals habe ich übrigens bereits die BÜHNE gelesen, weil mein Augenarzt, der ein großer Opernliebhaber war, das Magazin aufliegen hatte.

Ich hatte den Eindruck, wow, in Wien, da geht es ab. Im Lockdown habe ich viel im Josefstadt-Buch gelesen und mich mehr und mehr mit der Historie des Hauses beschäftigt. Für mich macht dieses Haus seine Geschichte aus, und jeder und jede, der oder die dort arbeitet, macht mein Theaterleben aus. Meine Persönlichkeit kann sich hier sehr gut weiter entwickeln (lacht). Schauspielen ist eine Teamarbeit, und je stärker, intensiver, suchender, neugieriger das Umfeld ist, desto mehr färbt es auf einen selbst ab. Ich liebe die Zeit, die ich hier verbringe.

„Die Liebe Geld": In Daniel Glattauers kafkaesker Bankengroteske spielte Martina Stilp gemeinsam mit Michael Dangl

Philine Hofmann

„Der ideale Mann“ ist Ihre erste Zusammenarbeit mit Regisseurin Alexandra Liedtke. Wodurch zeichnet sich ihre Arbeitsweise aus?

Martina Stilp: Am besten, ich beschreibe, wie sie arbeitet. Sie kommt sehr gut vorbereitet zur Probe, sie hat eine Vorstellung, macht uns ein konkretes Angebot, und wir, und das ist das Schöne, können das Angebot nutzen oder etwas Eigenes finden. Und sie bietet an, wir bieten an, und daraus entsteht etwas Neues. Sie ist sehr offen, wahnsinnig intelligent, und man hat das Gefühl, dass man von Probe zu Probe weiterkommt, weil man immer mehr ansammelt. In ihr hat man eine starke Begleiterin, aber auch eine offene Persönlichkeit, was die Arbeit sehr fruchtbar macht. Ihre Klugheit und ihre Offenheit zeichnen Sie aus.

Haben auch Sie als Schauspielerin in der ersten Probe schon eine Vorstellung, wie Sie das Ganze anlegen möchten oder sind Sie noch „tabula rasa“?

Für mich gilt in jedem Fall, dass ich ein Rollenangebot im Kopf habe. Dass der Text sitzt, ist ohnehin keine Frage. Im Fall von „Der ideale Mann“ kann man die englische Fassung lesen, man kann neben der Jelinek-Übersetzung auch andere deutsche Übersetzungen lesen, man hat also viel Futter. Wenn man sich mit einer Rolle beschäftigt, kommt man ohnehin in eine bestimmte Richtung. Wenn ein Regisseur oder eine Regisseurin woanders hinwill, kommt man miteinander eben woanders hin. Aber ich biete auf jeden Fall etwas an.

Frauenfiguren leiden meist, sie schmachten, sie morden manchmal auch, aber sie triumphieren ganz selten."

Martina Stilp

Wie haben Sie Mrs. Cheveley – im Stück eine Erpresserin, die sich durch ihr Wissen große Vorteile zu verschaffen sucht – angelegt?

In der Entwicklung kann ich nur sagen, dass es mir große Freude bereitet, eine so machtvolle Frau zu spielen. Das ist ganz selten. Frauenfiguren leiden meist, sie schmachten, sie morden manchmal auch, aber sie triumphieren ganz selten. Diese Mrs. Cheveley hat einen großen Trumpf im Ärmel, der sie sehr stark macht, und diese Macht genießt sie unglaublich. Und wenn ihr einer diese Macht abspenstig machen will oder es einmal nicht nach ihrem Plan läuft, dann ist sie klug und schnell genug, einen neuen Joker aus ihrer Rocktasche zu zaubern. Sie ist verliebt ins Leben und in ihr Frausein, sie liebt die Spielregeln der Männer und kann sie auch sehr gut bedienen.

Aber ist sie am Ende nicht die einzige Verliererin?

Nein, so wie ich sie sehe, ist sie das nicht. In ihrem letzten Auftritt im Stück verlässt sie erneut siegesssicher die Szene. Um die braucht man sich keine Sorgen machen, die ist ein Stehaufmännchen.

Macht es Spaß, die Perfide zu sein?

Ja. Schon. Weil das eine ganz eigene Kraft hat, weil das eine Durchtriebenheit hat, die selten ist. Im Leid und in der großen Liebe wird man geschult. Darin eher nicht.

„Der ideale Mann": Michael Dangl Stilp in der Rolle der erpresserischen Mrs. Cheveley.

Philine Hofmann

Alexandra Liedtke meinte, Macht und Korruption würden uns begleiten, solange wir als menschliche Gesellschaft existierten. Teilen Sie diesen düsteren Befund?

Martina Stilp: Ja, absolut, ich bin ganz ihrer Meinung. Mir fällt da ein Goethezitat ein, von dem ich hoffe, dass ich es halbwegs hinbekomme. „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleib im Dunkeln unerfahren, mag von Tag zu Tage leben“. Wir leben schon so lange, und es hat sich an den Kriegen, an den Machtpositionen im Grunde nichts verändert. Man darf froh sein, dass sich so etwas wie Demokratie überhaupt herausschälen konnte. Aber sie ist so zerbrechlich, wie man ja immer wieder sieht, dass man sehr auf sie aufpassen muss, wenn man sie einmal hat.

Als Frau Mag. Drobesch in „Die Liebe Geld“ sind Sie auf andere Weise perfide. Ihre Rolle wurde u.a. als kalt lächelnder Kontenroboter beschrieben. Können Sie dem zustimmen?

(Lacht). Sie ist schon noch ein Mensch, aber eben sehr zielorientiert. Unser Regisseur hat einmal gesagt, sie ist von einer so hohen Intelligenz, dass es ihr manchmal langweilig wird. Sie durchschaut alles, und das mag manchmal etwas roboterhaft rüberkommen.

Ist Ihnen diese Frau sympathisch oder reicht es, sie zu verstehen?

Würde ich ihr real begegnen, wäre sie mir nicht sympathisch. Mir wäre sie zu kalt, zu kühl, ich glaube, man kann bei ihr auch nie sicher sein, wie sie es mit einem meint. Sie wäre mir zu ungewiss. Als Freundin hätte ich sie ganz sicher nicht, und ich möchte sie auch nicht als Bankberaterin haben.

Michael Dangl ist sowohl bei „Die Liebe Geld“ als auch „Der ideale Mann“ Ihr Bühnenpartner. Besteht zwischen Ihnen eine besondere Theaterharmonie?

Die Besetzung machen ja nicht wir Schauspieler, weil wir einander mögen, sondern wir werden besetzt. „Die Liebe Geld“ war meine erste Zusammenarbeit mit Michael Dangl, dabei haben wir gemerkt, dass wir sehr gerne miteinander spielen, und ich habe mich dann auch sehr gefreut, als ich unsere Besetzung von „Der ideale Mann“ erfahren habe. Das Schöne, wenn man in einem Ensemble arbeitet, ist auch, dass man meist nicht mehr ganz „frisch“ aufeinandertrifft. Man kennt einander schon ein wenig und kann an einem ganz anderen Punkt beginnen, zusammen zu arbeiten.

Verändert sich die Arbeit, wenn man harmoniert?

Harmonisch heißt nicht, dass man sich nur anlächelt. Harmonie ist, glaube ich, eine grundsätzliche Wertschätzung, die einem auch bei unterschiedlicher Meinung vieles erleichtert.

Sie haben sechs Jahre lang bei bedeutenden Lehrern professionell Ballett studiert. Hatten Sie ursprünglich eine Tanzkarriere geplant?

Ich habe immer gesagt, ich wäre gerne tanzende Ärztin in Frankreich. Damit hätte ich damals alle meine Lieblingsbeschäftigungen, nämlich den menschlichen Körper, Tanz und Französisch, meine Lieblingssprache, unter einen Hut gebracht. Um das Tanzen rein beruflich zu betreiben, habe ich zu spät angefangen. Ich wusste sehr bald, dass ich das mit etwas anderem verbinden müsste. Rein tänzerisch wäre es nicht gegangen, das konnte ich schon einschätzen.

Fließt die tänzerische Ausbildung heute noch in Ihre Arbeit ein?

Oh ja, zum Beispiel jetzt bei „Der ideale Mann“. Dafür wurde auch ein Choreograph engagiert, da blüht natürlich mein Tänzerherz auf. Immer, wenn im Schauspiel körperlich gearbeitet wird, aber auch, wenn dem nicht so ist, versuche ich, über meinen körperlichen Weg einen Zugang zu finden. Das ist ein Teil von mir.

Mick Jagger macht angeblich täglich Ballett, um seine Körperspannung zu behalten. Tanzen Sie heute noch?

Nicht so, dass ich an meinem Treppengeländer Balletttechniken trainiere. Aber ich habe zum Beispiel den Tanzkurs, den man an der Schule macht, bis zum Gold-Abzeichen verlängert. Dieses Tanzen praktiziere ich schon noch, zum Beispiel auf Bällen oder bei Premierenfeiern. Klassisches Ballett mache ich aber nicht mehr.

„Zwischenspiel“: In Arthur Schnitzlers kompliziertem Ehegeflecht, das Themen wie Treue und Wahrheit zentral ausstellt, brillierte Martina Stilp an der Seite von Joseph Lorenz

Herwig Prammer

Sie waren im Theater in der Josefstadt schon in vielen Rollen zu sehen. Welche würden Sie als die für Sie einprägsamste, vielleicht auch wichtigste, benennen?

Martina Stilp: Da muss ich kurz überlegen. Die Mutter von Harold in „Harold und Maude“ habe ich sehr gerne gespielt. Das Zusammenspiel mit Erni Mangold ist etwas ganz Eigenes. Man muss eigentlich kaum etwas machen, nur reagieren, weil sie einen so in den Bann zieht.

Sehr aufrüttelnd war die Uraufführung „Niemand“ von Ödön von Horváth (das Stück, eine Tragödie, war ein Frühwerk und galt fast ein ganzes Jahrhundert lang als verschollen, ehe es 2015 am Theater in der Josefstadt uraufgeführt wurde, Anm.). Ich mag Horváth-Figuren sehr, man hat diesem Stück auch angemerkt, dass es ein Schubladen-Stück war und Horváth bei seiner Entstehung sehr jung war, dass es nicht fertig ausgearbeitet war. Aber die Figur der Gilda ist mir in ihrer Verzweiflung sehr tief gegangen.

Und natürlich die Rolle in „Terror“. Ich finde den Autor, Ferdinand von Schirach, enorm. Ich habe wirklich alles von ihm gelesen, er hat bei den Salzburger Festspielen 2017 auch eine ganz tolle Festrede gehalten, die ich mir immer wieder einmal durchlese. Ein feiner, kluger Mensch. Bei „Terror“ hat mich der Inhalt sehr beschäftigt.

Wie werden Sie diese Emotionen nach einer Vorstellung wieder los?

Das dauert eben ein bisschen. Man zieht sich um, schminkt sich ab, man trinkt vielleicht ein kleines Bier, plaudert miteinander. Vorher duscht man. Die Sachen lösen sich dann schon auf. Nach der dreieinhalb Stunden dauernden „Lulu“ in Graz habe ich sehr lange geduscht.

So, wie Sie Sie über Rollengestaltung und Stücke sprechen, drängt sich die Frage auf: Steht Regie auf Ihrem Lebensplan?

Nein. Gar nicht. Ich bin mit meiner jeweiligen Figur schon sehr beschäftigt, und eine Regisseurin muss zu jeder Figur eine Idee haben und den ganzen Abend in einen Zusammenhang bringen. Unterrichten könnte ich mir in der Zwischenzeit vorstellen, aber Regieführen nicht.

Ihrer Biografie lässt sich entnehmen, dass Sie die japanische Kampfkunst Aikido beherrschen. Worin bestand Ihre Motivation, diese zu erlernen?

Ich habe sie in der Schauspielschule kennengelernt. Die Otto-Falckenberg-Schule hat gerade im ersten Ausbildungsjahr sehr viel Wert auf unterschiedlichste Körpertrainings gelegt. Eine Zeitlang hatten wir Akrobatik, dann ging es wieder eher ins Tänzerische, und irgendwann wurde eben auch Aikido angeboten. Ich habe sofort Feuer gefangen. Aikido heißt wörtlich übersetzt „Der Weg der Harmonie mit geistiger Kraft“.

Jetzt muss ich kurz etwas ausholen: ich bin wirklich gerne eine Frau, habe aber in der Pubertät damit gehadert, dass mein drei Jahre jüngerer Bruder plötzlich stärker wurde als ich. Das habe ich nur schwer verkraftet, denn früher war ich die Stärkere. Damals dachte ich, warum hat eine Frau nicht so viel Muskelkraft wie ein Mann? Ich hätte gerne wahnsinnig viel Muskelkraft gehabt. Später habe ich einen Workshop bei einem hoch graduierten Meister gemacht, der meinte, die geistige Kraft sei geschlechtsunabhängig. Denn die geistige Kraft, die Vorstellungskraft, sei enorm. Deswegen liebe ich Aikido auch so sehr, weil ich dadurch eine Form von Stärke für mich gefunden habe.

Aikido gilt als friedfertige Kampfkunst. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Die Haltung von Aikido ist, dass es erst gar nicht zu einem Kampf kommt. Dass man den Angreifer von der Sinnlosigkeit seines Angriffs überzeugt. Man würde als Aikidoka nie selbstständig einen Kampf anfangen. Wenn ein anderer das tut, verwendet ein geschickter Aikidoka die Energie des Angreifers so, dass er sie gegen ihn selbst umleitet. Dafür gibt es bestimmte Techniken, meistens Drehtechniken, mit denen man den Angreifer mit dessen eigener Energie zu Fall bringt.

Zur Person: Martina Stilp

Sie spielte u.a. am Theater Augsburg, dem Schauspielhaus Graz, dem Volkstheater und bei den Salzburger Festspielen. Seit 2015 ist Martina Stilp Ensemblemitglied des Theaters in der Josefstadt. In der aktuellen Spielzeit ist sie in „Der ideale Mann", „Die Liebe Geld", „Das Konzert" und „Leopoldstadt" zu sehen.