Drei Röhren, vier Säulen – wenn man es sich einfach machen möchte, könnte man das „Europa in Szene“-Festival, das von 14. September bis 16. Oktober in Wiener Neustadt stattfindet, so zusammenfassen. Die gleich zu Beginn erwähnten Röhren beziehen sich allerdings nicht auf den Spielplan, sondern auf die Beschaffenheit des Spielortes – die historischen Kasematten mit ihrem beeindruckenden Gewölbe aus dem 16. Jahrhundert. Im Rahmen der NÖ Landesausstellung wurden diese generalsaniert und wiedereröffnet.

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Jede der drei Röhren wird im Rahmen des Festivals bespielt – Shakespeares selten gespieltes Drama „Coriolanus“ steht ebenso auf dem Programm wie August Strindbergs „Totentanz“, darüber hinaus gibt es mit „Reden!“ ein Re-Enactment berühmter Reden wie auch Diskurs- und Diskussionsformat. Vier Festival-Säulen also, in denen sich Anna Maria Krassnigg, Mitbegründerin des Theaterkollektivs „Wortwiege“ gemeinsam mit ihrem Team, dem Thema Macht widmet. Seit drei Jahren findet das Festival bereits in den Kasematten statt.

Fokus Europa

„Es war Liebe auf den ersten Blick“, erinnert sich Anna Maria Krassnigg an die erste Begehung der unterirdischen Gemäuer, in denen damals noch gebaut und renoviert wurde. „Ich habe sofort damit begonnen, mir Gedanken darüber zu machen, welche Art von Programm in diese Räume passt“, erklärt die Theatermacherin, die wir kurz vor der Generalprobe von „Coriolanus“ in den Kasematten treffen. „Meine Erfahrung mit Räumen ist, dass sie etwas verlangen. Man könnte hier nicht einfach alles reinprogrammieren. Wir kamen schließlich zu dem Schluss, dass Königsdramen gut hierher passen würden und dachten dabei nicht ausschließlich an Shakespeare, sondern an Stücke, die sich mit dem Gewinn und dem Verlust von Macht beschäftigen – von Ödipus bis Elfriede Jelinek.“

Während das Festival in den ersten beiden Jahren noch den Übertitel „Bloody Crown“ trug, ist heuer „Europa in Szene“ groß auf den Plakaten zu lesen. Dass der Fokus nun noch stärker auf Europa liegt, hat, so Krassnigg, mehrere Gründe. „Uns war es von vornherein wichtig, die beim Festival gezeigten Programmpunkte nicht auf den deutsch- oder englischsprachigen Raum zu limitieren. Die Narrative vom Entstehen und Vergehen von Macht vereinen schließlich ganz Europa. Es gibt in diesem Zusammenhang Mythen, Geschichten und politische Märchen, die den meisten Europäer*innen bekannt sind.“ Darüber hinaus scheint es nun wieder möglich zu sein, internationaler zu arbeiten, ergänzt die Theatermacherin. „Das ermöglicht es uns, Künstler*innen und Wissenschaftler*innen aus ganz Europa nach Wiener Neustadt zu holen.“

Aktuelle Stücke

Die Auswahl der beiden Stücke – „Coriolanus“ und „Totentanz“ – erfolgte eigentlich schon vor etwa zwei Jahren, an Aktualität haben sie seither aber nicht verloren. „Eher im Gegenteil“, stellt Anna Maria Krassnigg fest. Wie erschreckend gut die in den Stücken verhandelten Themen ins Jahr 2022 passen würden, war damals noch niemandem so recht klar. „Während der Proben haben sich die Stücke immer wieder aktualisiert. In einer Zeit, als man dachte, die Ära toxischer männlicher Macht wäre endlich überwunden, hält sie nun – ausgehend von Europa – die ganze Welt in Schach.“, ergänzt die Regisseurin und Festival-Leiterin.

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„Coriolanus“ und „Totentanz“ werden von Azelia Opak und Uwe Reichwaldt, beide ehemalige Studierende am Max Reinhardt Seminar, inszeniert. „Es ist zwei sehr unterschiedliche Stücke, die sich aber beide um dominantes männliches Herrschertum drehen – was es zerstört, in Familien bewegt und wie Frauen dagegen- oder auch mitwirken“, sagt Anna Maria Krassnigg, die seit 2012 eine Regie-Professur am Max Reinhardt Seminar innehat. Der Theatermacherin war es ein großes Anliegen, den Nachwuchs in ihr Projekt einzubinden. „Durch die Pandemie ist die gesamte Branche angeschlagen, am härtesten trifft es jedoch Nachwuchs. Ich glaube an all diese hochbegabten Menschen und möchte, dass ihre Arbeiten gesehen werden.“

Theater als Spiegelung der Welt

Ergänzt werden die beiden Stücke unter anderem vom Format „Reden!“, das vor rund acht Jahren entwickelt wurde, aber ebenfalls nicht an Aktualität eingebüßt hat. Die Idee entstand als Anna Maria Krassnigg eine Rede von Robert Menasse im alten Rathaus hörte. „In diesem Moment dachte ich mir, dass es sich bei einer Rede ja um ein ur-theatreales Moment handelt. Schließlich hat man es mit jemandem zu tun, der oder die das Publikum mit Worten für sich gewinnen möchte.“ Umgesetzt wird das Format mit Schauspieler*innen, die berühmte Reden auf einer Bühne performen. Anschließend werden die Reden analysiert. Der letzte Programmpunkt ist ein reines Diskursformat. In fünf Matinéen beleuchten hochkarätige Gäste aus Wissenschaft und Kunst die in den Theaterabenden aufgeworfenen Fragen.

Anna Maria Krassniggs persönliche Haltung dazu, wie sich das Theater in den momentanen Krisenzeiten verhalten sollte, deckt sich mit ihrer Meinung darüber, warum es das Theater überhaupt braucht. „Stark vereinfach gesagt, finde ich Theater vor allem als Referenzrahmen und Spiegelung der Welt unglaublich spannend. Meiner Ansicht nach ist es etwas Naturgegebenes, Dinge, die man nicht erträgt, in einer Art von künstlerischem Verdauungsprozess nachzuspielen. Theater hat meiner Ansicht nach deshalb bis heute überlebt, weil es etwas sehr Vegetatives ist“, bringt es die Theatermacherin auf den Punkt. „Das, was die Wirklichkeit mit uns macht, muss spielerisch verhandelt werden dürfen.“

Europa in Szene
Lukas Haas und Jens Ole Schmieder in „Coriolanus“ in den Kasematten.

Foto: Julia Kampichler

Im Aggregatzustand der Probe

Nach einer kurzen Pause ergänzt sie, dass aus dieser Haltung auch ihre große Vorliebe für Autor*innentheater erwächst. „Je schwieriger die Zeiten sind, desto wichtiger wird das Autor*innentheater, weil Haltung und Meinung, ein Abtausch mit Worten, etwas bewirken können. Besonders im Theater“, fasst sie zusammen. Anhand der beiden ausgewählten Stücke ließe sich außerdem gut festmachen, dass Aktualität und Komik einander nicht ausschließen. Es gäbe auch in „Coriolanus“ viele Momente, die so abgründig sind, dass man auch lachen muss – „weil das Absurde und Komische einen Millimeter neben dem Tödlichen und Gefährlichen wächst.“

Ihr Faible für das Erzählen von Geschichten auf einer Theaterbühne begleitet Anna Maria Krassnigg schon sehr lange. „Mir ist erst vor kurzem aufgefallen, dass ich mich seit ich 18 Jahre alt bin permanent im Aggregatzustand der Probe befinde“, merkt sie lachend an. Routine oder gar Langeweile kam während dieser Zeit nie auf. „Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen als aus Bildern, Text und Musik eine Welt zu bauen“, fügt sie hinzu. Die Theaterkompagnie „Wortwiege“ leitet sie gemeinsam mit dem Komponisten, Musiker, Visual Designer, Theater- und Filmproduzenten Christian Mair. Die Kompagnie steht für zeitgenössisches dramatisches Erzählen und das Bekenntnis zum Autor*innentheater. 

Den Kasematten wird Anna Maria Krassnigg noch länger – und wahrscheinlich auf noch intensivere Weise als bisher – verbunden bleiben. So viel sei schon einmal verraten: In Zukunft wird die „Wortwiege“ die historischen Kasematten noch umfassender und intensiver bespielen.

Zum Programm von „Europa in Szene“