Dass ein Sänger noch einen Tag vor der großen Premiere, die am
19. Oktober stattfand, bereitwillig ein ausführliches Interview gibt, ist eher selten. Christopher Lowrey scheint indes Spaß daran zu haben, seine Rolle und seinen künstlerischen Werdegang – wahrlich nicht zum ersten Mal – eingehend zu reflektieren. „Wir hatten eine siebenwöchige Probenphase“, erzählt er, angesprochen auf seine jüngsten Wien-Erfahrungen, „so lange habe ich noch für kein Stück geprobt.“

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Ein immenser Vorteil, der einem Sänger auch ein gewisses Maß an Sicherheit vermittle. „Obwohl ich mit Lampenfieber im traditionellen Sinn kaum Erfahrung habe“, lacht er nicht zum letzten Mal an diesem Nachmittag. „Vielmehr setze ich mich selbst unter Druck und leide aufgrund meiner eigenen Erwartungen und der Frage, ob ich diese erfüllen werde können oder nicht, unter Ängsten. Vor einem Publikum aufzutreten, mindert diese Furcht dann. Ich habe keine Ahnung, wie man das nennt, wahrscheinlich ist es das Gegenteil von Lampenfieber.“  

Stefan Herheim

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Christopher Lowrey singt und spielt Didymus, einen römischen Offizier in Antiochia, wo Statthalter Valens ein Gesetz verkündet, wonach alle Bewohner am Geburtstag des Kaisers Gott Jupiter opfern müssen. Wer sich weigert, soll hingerichtet werden. Didymus aber sympathisiert mit den Christen, weil er sich in Theodora, eine überzeugte Christin, verliebt hat. Diese weigert sich, einem Götzen zu huldigen und wird dazu verurteilt, den niedersten Soldaten als Prostituierte zu dienen. Als Didymus sie zu retten versucht, werden beide zum Tode verurteilt.

„Er ist sehr jung und unvoreingenommen“, findet sein Darsteller, „möglicherweise ist er anderen gegenüber sogar zu offen. Ich habe den Eindruck, dass er während dieses Konflikts erst zu seiner Identität findet.“ Die Geschichte handle von Menschen, die so tief glaubten, dass sie bereit seien, dafür große Opfer zu bringen. Möglicherweise erscheine uns das heute unverständlich, lege man dieses Verhalten aber auf andere Ideologien um, werde es gleich viel anschaulicher. Wer zum Beispiel seinen eigenen Materialismus einmal in Frage stelle, habe wahrscheinlich schnell eine stärkere Sympathie für Klimaschützer. 

Hauptdarsteller o als Septimius, Jacquelyn Wagner in der Titelrolle, Julie Boulianne als Irene, Christopher Lowrey als Didymus und Evan Hughes als Valens.

Foto: Monika und Karl Forster

Kollege am Pult

Als Dirigent fungiert Bejun Mehta, wie Christopher Lowrey ein international akklamierter Countertenor. „Das ist ein wenig einschüchternd, weil er als Künstler einen enormen Status genießt und für seinen guten Geschmack bekannt ist. Andererseits nehme ich es als Vertrauensbeweis, dass er mich für diese Rolle ausgesucht hat. Er hat hohe Standards, und dieses Vertrauen hat es mir ermöglicht, mein Bestes zu geben.“ Die Kritiken geben ihm dabei Recht.

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Mit Stefan Herheim als Regisseur habe er zum ersten Mal gearbeitet. „Er ist sehr musikalisch und kennt die Partitur auch rückwärts, was eine hohe Qualität ist. Seine Arbeitsweise ist interessant und war mir bisher unbekannt. Die meisten Regisseure skizzieren eine Szene in einem großen Entwurf und fügen dann erst Details ein, um die Dinge zu präzisieren. Stefan präzisiert hingegen von Anfang an. Das ist genial, bedeutet aber auch, dass es lange dauert, bis man eine Szene kreiert hat. Wir haben die sieben Wochen Probenzeit also wirklich benötigt. Mit ihm zu arbeiten, war jedenfalls großartig.“ 

Bejun Mehta

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Überraschungsfaktor Gesang

Geboren in Johnston / Rhode Island, habe es in seiner engeren Familie keine Künstler gegeben. „Das ist etwas, was ich selbst für mich entdeckt habe. Ich habe schon als kleines Kind gesungen, lange, bevor ich ein Instrument erlernt habe. Es schaut also so aus, als ob sich der Gesang mich ausgesucht hätte, und nicht umgekehrt. Mit Countertenören bin ich kaum in Berührung gekommen, aber ich habe als Teenager irgendwann zufällig Aufnahmen gehört und Videos gesehen und konnte mich sofort damit identifizieren. Meine Baritonstimme war, fürchte ich, nicht gut, aber als Countertenor konnte ich angenehme Töne erzeugen. Das ging wie von Zauberhand, und ich habe es nicht hinterfragt.“

Außerhalb der Musikwelt seien noch immer viele Menschen überrascht, wenn sie ihn zum ersten Mal singen hörten. „Aber das geschieht immer seltener. Ich glaube, Countertenöre werden heute ganz anders wahrgenommen als in meinen Anfängen, weil es so viele tolle, auch medial präsente außergewöhnliche Sänger dieses Fachs gibt. Die Schockwirkung ist nur von kurzer Dauer und schon allein deshalb nicht sehr interessant. Die meisten Countertenöre wollen genauso beurteilt werden wie eine Mezzosopranistin oder ein Bariton. Heute wissen wir viel mehr über unterschiedliche Typen von Stimmen, und ich hoffe, dass diese positive Entwicklung weitergeht.“ 

Theodora Musiktheater an der Wien
Christopher Lowrey M.), Jacquelyn Wagner (r.) und dem Arnold Schoenberg Chor.

Foto: Monika und Karl Forster

Mag er eigentlich seine eigene Stimme? Christopher Lowrey lacht, möglicherweise hat er diese Frage befürchtet. „Ich bin sehr hart zu mir selber und ziemlich perfektionistisch, ich habe hohe Standards, manche würden es auch unrealistische Standards nennen. Aus diesem Grund mag ich meine Stimme die meiste Zeit nicht sonderlich. Aber es gibt Momente, manchmal ist es nur eine Phrase, in denen ich sie sehr wohl mag. Wenn es sich um eine Aufnahme handelt, höre ich mir genau diese Phrase dann öfter an und ziehe daraus einigen Genuss. Manchmal kann sich diese Freude auch auf eine Minute meines Gesangs ausdehnen, aber normalerweise höre ich mir mit selbstkritischen Ohren zu, was ein schwieriger Prozess sein kann. Gelegentlich muss ich meine Aufnahmen auch nachbearbeiten, da ist es dann am besten, das Ganze für ein paar Monate wegzulegen und erst mit Abstand wieder anzuhören. Meistens macht es das einfacher. Und noch einfacher wird es mit einem oder zwei Gläsern Wein.“ Und da ist es wieder, das Lowrey-Lachen. 

Die Rolle des Didymus singt er aktuell übrigens bereits in der dritten Produktion. „Ich habe ‚Theodora‘ davor schon 2016 in Sydney und 2018 in Potsdam gemacht. Heuer wird es auch noch eine Aufnahme davon geben, und im kommenden Februar werde ich es konzertant am Sydney Opera House singen. Es schaut so aus, als wäre das gerade die richtige Zeit für ‚Theodora‘. Es ist ein großartiges Stück, die Menschen lieben es, und weil es noch nicht so bekannt ist wie es ihm gebührt, ist dieser Hype auch längst überfällig.“ 

Künstlerischer Hochleistungssport

Angesprochen auf notwendige Aktivitäten, um seine Stimme fit zu halten, stöhnt Christopher Lowrey. „Mein Gott, man muss vieles berücksichtigen. Man braucht viel Schlaf, ausreichend Übung, und man sollte gesund bleiben. Ich reise stets mit dem, was ich meine persönliche Apotheke nenne, und bin für jede Situation gerüstet. Ich trinke viel Wasser, wenig Alkohol oder Kaffee, und muss darauf achten, dass die Räume, in denen ich mich aufhalte, eine möglichst hohe Luftfeuchtigkeit haben, weil Trockenheit der Stimme schadet. Das ist ein ganzes Bündel an Maßnahmen. Auch die mentale Gesundheit ist enorm wichtig, denn von Zeit zu Zeit beschleicht uns Sänger der Zweifel. Soziale Kontakte zu pflegen, genügend Freizeit und Urlaub zu haben – auch das ist auf lange Sicht essenziell.“ 

Nach „Theodora“ geht es für ihn mit dem Projekt „Seven Deadly Sins“ zunächst nach Berlin und dann nach Buenos Aires. „Ich freue mich darauf, damit mein Debüt in Südamerika zu feiern.“ Danach kehrt er in seine Heimat USA zurück, wo er gemeinsam mit dem von ihm gegründeten Ensemble Altera in Washington Händels „Messiah“ zur Aufführung bringen wird – als Dirigent! Es folgen Benjamin Brittens „Canticles“ mit Allan Clayton in Paris und Berlin, die bereits erwähnte konzertante „Theodora“ in Sydney, und im Frühling/Sommer 2024 „The Coronation of Poppea“ in Großbritannien. „Das sind meine nächsten paar Monate.“ Sehr viel zu tun also. „Zum Glück.“ 

Theodora
im MusikTheater an der Wien / Halle E / MuseumsQuartier
Tickets: theater-wien.at