„Warum sich ins gemachte Nest setzen, wenn man sich auch ein Baumhaus zimmern kann, das ganz nach den eigenen Vorstellungen funktioniert?“ könnte jene Frage lauten, mit der sich die Arbeitsweise des britisch-irischen Regie-Duos Dead Centre am besten beschreiben lässt. Oder man verzichtet auf Baumhaus-Metaphorik, bleibt lieber am Boden der Tatsachen, und erklärt, wie es wirklich ist – und warum „ein wenig masochistisch“ vielleicht die naheliegendste Bezeichnung für die eigene Art zu arbeiten ist. „Wir bürden uns total gerne riesengroße Herausforderungen auf und sehen uns dann an, wie wir aus dieser Situation wieder herauskommen. Ich weiß nicht genau, warum wir das tun, weil es ein wenig masochistisch ist, aber wir tun es immer wieder“, erklärt Ben Kidd, der Dead Centre 2012 gemeinsam mit Bush Moukarzel gegründet hat. Ein kurzes, aber herzliches Lachen durchbricht seinen Redefluss, den er damit begründet, dass Proben und Interview beinahe nahtlos ineinander übergegangen sind.

Anzeige
Anzeige

Wir nehmen lieber etwas, das unmöglich zu inszenieren ist und versuchen Wege zu finden, wie es möglicherweise doch auf der Bühne funktioniert.

Ben Kidd

Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu, dass es Stücke wie etwa Tschechows „Drei Schwestern“ gibt, die ihre Arbeit als Regisseure einfach nicht benötigen, weil es sich dabei ohnehin um perfekt konstruierte Theaterstücke handelt. „Wir nehmen lieber etwas, das unmöglich zu inszenieren ist und versuchen Wege zu finden, wie es möglicherweise doch auf der Bühne funktioniert“, so Kidd. Auch auf „Alles, was der Fall ist“, das die beiden gerade am Burgtheater proben, trifft das voll und ganz zu. Das Stück basiert auf dem Tractatus logico-philosophicus, jenem Werk des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgensteins, aus dem die meisten Menschen folgenden Satz kennen: „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen“.

Das Publikum im Zentrum

„Ein unglaublich poetischer Satz“, wie Ben Kidd betont. Als Stück Poesie möchte der Regisseur Wittgensteins kurzes, aber einflussreiches Werk auch betrachten. Denn, ob es möglich ist, Wittgensteins zu Formeln zusammengezurrte Gedanken wirklich zu verstehen, stünde wieder auf einem anderen Blatt. Für dessen Entzifferung vielleicht sogar der Zugang zu einem anderen Stern nötig wäre. Geht es nach Ben Kidd, ist Wittgensteins Tractatus nämlich wie etwas, das uns von Außerirdischen gegeben wurde. „Die Art der Sprache und die Art des Denkens sind einfach unmöglich zu verstehen“, erklärte er wenige Wochen vor unserem Interview in einem Gespräch mit dem Burgtheater-Dramaturgen Andreas Karlaganis.

Viel wichtiger als die Frage, wie man den Tractatus verstehen kann, sei für ihn und Bush Moukarzel aber ohnehin die Überlegung gewesen, wie man daraus ein Theaterereignis machen könnte. Wie bei all ihren anderen Produktionen auch, nahm dabei das Publikum eine zentrale Rolle ein. „Wenn wir ein Stück erarbeiten, denken wir sehr intensiv darüber nach, was sich das Publikum erwartet, was es sich möglicherweise überhaupt nicht erwartet und warum die Menschen ins Theater kommen, um sich genau dieses Stück anzusehen“, fasst Ben Kidd zusammen.

Dass es in einem Land, das man nicht so gut kennt, deutlich schwieriger ist, Antworten auf diese Fragen zu finden, verwundert ganz und gar nicht. Aber es ist eine Herausforderung, die das Regie-Duo, gemäß ihres eingangs geschilderten Credos, gerne annimmt. Mit Erfolg, denn „Alles, was der Fall ist“ ist bereits ihre zweite Inszenierung für das Burgtheater. Außerdem waren sie mit ihren Stücken schon in vielen anderen Ländern unterwegs.

Anzeige
Anzeige
Johannes Zirner, Alexandra Henkel, Tim Werths, Philipp Hauß in „Die Traumdeutung nach Sigmund Freud".

Foto: Matthias Horn

Sprache als Modell

Geholfen hat ihnen dabei unter anderem, dass es sowohl in der „Traumdeutung“, ihrem ersten Stück für das Burgtheater, als auch in „Alles, was der Fall ist“, um Personen geht, die tief in der österreichischen Geschichte verwurzelt sind. „Gerade bei Sigmund Freud ist es so, dass vermutlich jeder Mensch, der in Österreich lebt, eine Meinung zu ihm und seiner Arbeit hat“, erklärt Ben Kidd. „Die Menschen sind also bereits involviert, wenn sie ins Theater kommen". Mit „Alles, was der Fall ist“ geht das britisch-irische Regie-Duo in Sachen Komplexität nun zwar einen Schritt weiter. Aber nie, ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass am Ende des Tages dabei ein Theaterereignis herauskommen soll. „Die Theorie soll niemals den Ereignischarakter einer Aufführung überlagern“, bringt es Ben Kidd auf den Punkt. Außerdem ist er davon überzeugt, dass man dem Wiener Publikum schon einiges zutrauen kann.

Ideen für die Umsetzung von „Alles, was der Fall ist“ bekamen sie unter anderem von Wittgenstein selbst. „Durch den Tractatus sind wir überhaupt erst auf die Idee gekommen, Modelle in unsere Inszenierung zu integrieren“, so der Theatermacher. „Wittgenstein versucht in seinem Text zu verstehen, wie Sprache funktioniert. Er kommt dabei zu dem Schluss, dass wir uns mit der Sprache ein Bild von unserer Welt machen, Sprache also Modellcharakter hat". Das ist jedoch nicht der einzige Grund, warum in „Alles, was der Fall ist“ Modelle, also kleine Abbildungen unserer Welt, mit den Spielenden zusammengebracht werden. „Ein wichtiger Teil unserer Arbeit ist das Bauen von Bühnenbildmodellen, die das Publikum normalerweise aber nicht zu Gesicht bekommt. Diesmal sind sie Teil der Inszenierung“, so Kidd.

Wie in Warhols Factory

Ob es tatsächlich gelingt, durch ein Modell die Welt zu verstehen, zweifelte Wittgenstein in seinen späteren Werken jedoch selbst immer stärker an. Parallelen zum Theatererlebnis ergeben sich daraus trotzdem. Schließlich kann, so Ben Kidd, auch das Theater selbst als ein solches Modell gesehen werden. Denn auch auf der Bühne stehen Spielende und Requisiten immer für etwas anderes. An sie selbst, also an das, wofür sie stehen, kommt man allerdings auch am Theater nicht heran. Um zu verdeutlichen, wie er das meint, zitiert Ben Kidd Peter Handke: „Light is brightness pretending to be other brightness; a chair is a chair pretending to be another chair."   

Wenn das Burgtheater all seine verschiedenen Abteilungen aktiviert, ist das unglaublich. Es ist wie eine Maschine.

Ben Kidd

Erarbeitet wurde „Alles, was der Fall ist” in einem Umfeld, das, wie der Regisseur erklärt, an Andy Warhols Factory erinnert. „Eigentlich war es Andreas Karlaganis, der diese sehr schmeichelhafte Parallele gezogen hat“, wirft Ben Kidd lachend ein. „Wir müssen aber zugeben, dass bei uns etwas weniger Rock’n’Roll im Spiel war.“ Ermöglicht wurde eine solche Arbeitsweise einerseits durch die Offenheit der Schauspieler:innen, andererseits durch die gute Zusammenarbeit aller anderen Gewerke. „Wenn das Burgtheater all seine verschiedenen Abteilungen aktiviert, ist das unglaublich. Es ist wie eine Maschine“, beschreibt der Regisseur voller Begeisterung.

Prozesse, bei denen es auf alles ankommt

Für die Arbeitsweise des Regie-Duos, die unter anderem stark darauf beruht, sich anzusehen, wo eine anfangs vielleicht kleine Idee hinführt, das ideale Setting. „Wir sind von Prozessen begeistert, bei denen es auf alles ankommt. Wenn man einen Stein aus der Wand nimmt, fällt alles in sich zusammen. Deshalb gibt es bei uns zwischen den einzelnen Gewerken auch keine Hierarchien“, erklärt Ben Kidd noch schnell, bevor er ins nächste Meeting weitermuss. Und wenn er sich dann morgen wieder mit seinem Team im Baumhaus trifft, sieht es im Inneren der Konstruktion bestimmt schon wieder ein wenig anders aus. Denn neue Herausforderungen verlangen nach neuen (Theater-)räumen.

Foto: Lukas Beck

Zur Person: Ben Kidd

Geboren 1980 in Leeds. Englisch- und Philosophiestudium an der Nottingham University. Schauspielausbildung an der Bristol Old Vic Theatre School und Regiekurs an dem National Theatre Studio. Gemeinsam mit Bush Moukarzel Gründer und künstlerischer Leiter der irischen Theatergruppe Dead Centre.

Weiterlesen

Volkstheater in den Bezirken: Calle Fuhr sucht nach dem Gemeinsamen

Alle Informationen zum Spielplan des Burgtheaters finden Sie hier