Wirft man einen Blick auf die Werkliste des britischen Dramatikers Simon Stephens, drängt sich schnell folgende Frage auf: Wann schläft dieser Mann eigentlich? In seiner Heimat gehört der 50-Jährige definitiv zu den meistbeschäftigten Autoren seiner Generation. Unter normalen Umständen, versteht sich. Aber auch im deutschsprachigen Raum kommt man an dem in Stockport bei Manchester geborenen Theaterautor nicht vorbei, ohne von dem ein oder anderen Superlativ Gebrauch zu machen. So gibt es in Deutschland und Österreich kaum ein Theater, das noch keines seiner Stücke auf dem Spielplan hatte. Auch bei den Wiener Festwochen war Simon Stephens in den vergangenen Jahren regelmäßig zu Gast. 2011 sogar mit der deutschsprachigen Erstaufführung seines Stückes „Wastwater“.

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Scheint fast so, als hätte ihn der Beschleunigungsstreifen, auf dem er seit Beginn seiner Theaterkarriere unterwegs ist, plötzlich in Deutschland – genau genommen in Stuttgart – wieder ausgespuckt. Am dortigen Staatstheater inszenierte Regisseur Sebastian Nübling nämlich vor fast 20 Jahren sein zweites Stück „Herons“ („Reiher“) und markierte damit den Beginn einer langen, intensiven Zusammenarbeit zwischen Autor und Regisseur. Die Überholspur hat Stephens seither nicht mehr verlassen.

Fantasievoll, interpretativ und furchtlos

Wenn man Simon Stephens nach den Gründen dafür fragt, warum die Liebe zu seinen Theatertexten einst auf den Kontinent überschwappte und sich dort seither wie wild verbreitet, kommt erstmal nur ein Lacher. Und zwar einer von der ausgelassensten Sorte. „Ein Teil von mir ist nach wie vor darüber verwundert, dass sich außer meiner Mutter überhaupt irgendjemand für meine Stücke interessiert. Manchmal wundert es mich sogar, dass meine Mutter meine Stücke mag“, sagt er. Man möchte dem Autor in solchen Momenten ja gerne Koketterie vorwerfen, tut es dann aber doch nicht. Aus Gründen, die sehr viel mit Sympathie, aber mindestens genauso viel mit dem offenen Gesprächsklima zu tun haben, das entsteht, wenn der Rockstar der britischen Theaterszene ins Plaudern gerät. Ein paar Menschen, die er mit seinem Erfolg am europäischen Festland in Verbindung bringt, möchte Simon Stephens dann aber doch nicht unerwähnt lassen.

Nils Tabert, den Chef des Rowohlt Theaterverlages zum Beispiel. Und natürlich den bereits erwähnten Regisseur Sebastian Nübling. „Ich glaube nicht, dass es jemals der Fall war, dass ein britischer Dramatiker am Anfang seines Schaffens so eng mit einem deutschen Regisseur auf dem Höhepunkt seines Schaffens zusammengearbeitet hat“, so Stephens. Er erinnert sich noch gut an die Einladung nach Stuttgart, um Sebastian Nüblings Inszenierung von „Herons“ zu sehen. „Bevor ich geflogen bin, wurde ich mehrfach gewarnt, dass ich in Deutschland bestimmt nicht ‚mein Stück‘ sehen werde“, sagt er lachend.

„Ich habe diese Produktion von ‚Herons‘ dann gesehen und es war aufregend. Das Bühnenbild entsprach nicht wirklich dem Bühnenbild, das ich in meinen Regieanweisungen beschrieben habe. Außerdem hat Sebastian Text hinzugefügt und an anderen Stellen Text gestrichen. In gewisser Weise war es also wirklich nicht mein Stück, aber er hat mit wirklich tiefer Intelligenz das herausgelesen, worüber ich geschrieben habe und eine visuelle und performative Sprache dafür gefunden." Damals hat sich eine Kollaboration entwickelt, die in den Worten des Autors „fantasievoll, interpretativ und furchtlos“ ist. Und die bis heute anhält.

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„The writer's theatre"

Dazu ist vielleicht zu sagen, dass sich in der englischsprachigen Theaterlandschaft alles um die Autor:innen dreht. So bezeichnet sich beispielsweise das Royal Court Theatre im Londoner Stadtteil Chelsea, in dem Simon Stephens als Associate Playwright fungiert, als „the writer’s theatre“. Die Texte der Autor:innen gelten als heilig, ihre Regieanweisungen als unanfechtbar. „Als ich zum ersten Mal zum Theatertreffen nach Berlin eingeladen wurde, war ich überrascht, dass auf den Preisen der Name des Regisseurs stand“, erzählt der Autor während er sich lachend nach vorne in Richtung Computerkamera lehnt. Das ohnehin zerstrubbelte Haar hängt ihm danach noch ein wenig weiter in die Stirn.

Was ich möchte, ist, dass ich von dieser Zusammenarbeit überwältigt werde."

Simon Stephens

„Im Gegensatz zu vielen anderen Dramatiker:innen bin ich von Kollaborationen begeistert. Ich liebe es, wenn Regisseur:innen meine Stücke zerlegen und neu interpretieren. Ich finde es großartig, wenn Regieanweisungen ignoriert werden, wenn Text umstrukturiert und hinzugefügt wird. Es gibt Geschichten über britische Dramatiker:innen, die sich in Deutschland ihre Stücke ansehen wollten, den Saal aber gleich wieder verlassen haben, weil sie ihre Stücke nicht wiedererkannt haben. Auf mich trifft das Gegenteil zu. Was ich möchte, ist, dass ich von dieser Zusammenarbeit überwältigt werde.“

Während die Stücke des umtriebigen Dramatikers am europäischen Festland meist gefeiert wurden, lösten sie bei britischen Kritiker:innen hin und wieder wütende Rundumschläge aus. „Ich erinnere mich noch gut an die Premiere von ‚Three Kingdoms‘ am Lyric Hammersmith Theater in London“, erzählt Stephens. „Es wurde von der Kritik in der Luft zerfetzt und auch die Verkäufe liefen wirklich schlecht.“ Das Stück, eine Detektivgeschichte mit kafkaesken Zügen (ebenfalls von Sebastian Nübling inszeniert), war eine Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen und dem estnischen Teater NO99. Auf der Bühne wird in „Three Kingdoms“ daher Deutsch, Englisch und Estnisch gesprochen. Es handelt sich dabei also auch um ein von Grund auf europäisches Stück, in dem sich nicht nur drei Sprachen, sondern auch drei völlig unterschiedliche Theatertraditionen miteinander verbanden.

Kein Ort des Hinterfragens

„Nach und nach“, ergänzt Simon Stephens, „füllte sich dann auch in London der Theatersaal. Es hatte sich herumgesprochen, dass da etwas ganz Besonderes passiert, was wiederum dazu geführt hat, dass vor allem junge Menschen, Autor:innen und Regisseur:innen kamen, um sich das Stück anzusehen." Noch Jahre nach der Premiere wurden dem Schauspieler Nick Tennant, der in einer der Hauptrollen zu sehen war, aufgrund dieses Stücks, Rollen in experimentellen Theaterstücken angeboten. „All die jungen Regisseure und Regisseurinnen wollten ihn treffen“, fügt Stephens lachend hinzu.

Wieso es dazu kam, dass man in England an Guckkastenbühne und Well-Made-Play festhielt, während sich in Deutschland und Österreich experimentelle und sprachkritische Formen etablierten? „Im deutschsprachigen Raum entwickelte sich in den 1960er Jahren eine neue Künstler:innengeneration, die sich gegen die Traditionen der Elterngeneration wandte. Das Theater hat sich in dieser Beziehung gut angeboten, weil es als Ort verstanden wurde, an dem man sich diesen schwierigen Fragen widmen konnte – und wollte“, meint Stephens nachdenklich.

„Im Gegensatz dazu“, erklärt der Autor, „ist unser Narrativ und Selbstverständnis noch sehr vom Ende des Zweiten Weltkrieges geprägt. Das wurde auch anhand der Brexit-Kampagne gut sichtbar, die von sprachlichen Elementen durchzogen war, die schon damals verwendet wurden. Der eine Moment in der Geschichte, aus dem wir als ‚die Guten‘ hervorgegangen sind, prägt also nach wie vor unser Selbstverständnis. Auf das Theater bezogen, bedeutet das, dass es damals nicht ein Ort des Hinterfragens geworden ist, sondern ein Raum, um zu feiern. Um eine gute Zeit zu haben. Das ist bis heute spürbar.“

„An idiotic faith?"

Wie fast überall auf der Welt sonst auch, haben die britischen Theaterhäuser im Moment kaum etwas zu feiern. Vor ungefähr einem Jahr war Simon Stephens zum letzten Mal im Theater. Mit Ausnahme einer Licht- und Klanginstallation, die im vergangenen Sommer in London gezeigt wurde. Obwohl es, wie der Dramatiker erklärt, in England seit Frühjahr vergangenen Jahres einen „Cultural Emergency Fund“ gibt, der sehr viel höher ausfiel als sich viele erwartet hätten, gibt es bei der Verteilung finanzieller Hilfen für ihn mehrere Baustellen.

Während in Deutschland und Österreich ein großer Anteil der Schauspielerinnen fixe Engagements an den Theaterhäusern haben, sind in Großbritannien, die meisten Menschen, die im Theater arbeiten, selbstständig."

Simon Stephens

Eine davon betrifft die Struktur vieler britischer Theaterbetriebe. „Während in Deutschland und Österreich ein großer Anteil der Schauspieler:innen fixe Engagements an den Theaterhäusern haben, sind in Großbritannien, die meisten Menschen, die im Theater arbeiten, selbstständig. Das Geld aus dem bereits angesprochenen Topf geht also an die Theater und nicht an sie. Das wiederum bedeutet, dass die meisten Theater die Pandemie überleben werden, viele jener Menschen, die am Theater arbeiten, aber nicht“, sagt Simon Stephens.

Obwohl er seinen Optimismus auch im Gespräch immer wieder hervorhebt, ist sich der Autor momentan nicht ganz sicher, ob pure Unsicherheit oder aufgeregte Neugierde ein der Situation angemessenerer Gefühlszustand ist. Für Letzteres spricht der immer wieder bemühte Vergleich mit den 1920er Jahren. „Nachdem der erste Weltkrieg und die Spanische Grippe überstanden waren, begann eine Zeit, in der alle Kunstrichtungen plötzlich von einer unglaublichen Fantasie und Kreativität geprägt waren", so Stephens. Der Theaterautor glaubt nicht nur fest daran, dass es sich beim Theater um eine Kunstform handelt, die sich auch von dieser schweren Krise erholen wird, sondern hofft auch, dass sie das mit neuer Energie tun wird. „An idiotic faith?“, befragt sich der Dramatiker selbst. Vielleicht. Andererseits glaubt er auch, dass sich Probleme und Möglichkeiten oft ein- und denselben Ursprung teilen.

Die Angst einer ganzen Generation

Gerade am Anfang der Pandemie gab es aber schon Momente, in denen dem Autor der Optimismus abhandengekommen ist. „Ich hatte Panik. Doch diese Angst hat es nicht nur beinahe unmöglich gemacht zu schreiben, sondern auch als Vater zu funktionieren. Deshalb habe ich mein Verhalten radikal umgestellt. Ich habe begonnen zu meditieren, Sport gemacht und viel gelesen. Und dann auch wieder sehr viel geschrieben. Mehr als ich jemals in so kurzer Zeit geschrieben habe“, so Stephens. Durch den kommerziellen Erfolg seiner Bühnenadaption des Bestsellers „The Curious Incident of the Dog in the Night-Time“ musste er sich, wie der Autor hinzufügt, finanziell glücklicherweise keine allzu großen Sorgen machen.

Ich hoffe, dass die kulturelle Welt immer noch diesen Drang verspürt, sich zu verbinden."

Simon Stephens

Die Angst einer Generation, der es eigentlich an nichts fehlt, hat Stephens auch in seinen Theaterstücken schon öfter beschrieben. „Es herrschte permanent diese latente Unsicherheit, dass etwas Schreckliches passieren könnte, das zum damaligen Zeitpunkt aber noch niemand benennen konnte. Im März letzten Jahres klopfte diese Gefahr plötzlich an meine Haustür. Da bekam ich Panik.“ Es dauerte vielleicht ein bisschen, bis er sein Lachen und seinen scheinbar grenzenlosen Optimismus wieder zurückgewinnen konnte, doch nun ist Simon Stephens wieder voll da. Lachend, schreibend, diskutierend. Was ihm sonst noch geholfen hat? „Gespräche wie dieses sind unglaublich bereichernd. Ich hoffe, dass der strukturelle Horror des Brexit diesen Austausch nicht stoppt. Dass die kulturelle Welt immer noch diesen Drang verspürt, sich zu verbinden."

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Zur Person: Simon Stephens

Der Autor wurde 1971 in Stockport/South Manchester geboren, studierte Geschichte an der York University und arbeitete u.a. als Barkeeper und DJ, bevor er Lehrer für Englisch sowie Theater und Medien an der Eastbrook School in Dagenham wurde. 1998 hatte sein Stück Bluebird im Rahmen des „new writing”-Festivals „Choices” Uraufführung am Londoner Royal Court Theatre. 2000 war er am Royal Court Theatre „resident dramatist” und im selben Jahr Hausautor am Royal Exchange Theatre in Manchester.

Weiterlesen: Claudia Bossard über „In den Alpen / Après les alpes“

Simon Stephens moderiert den Podcast des Royal Court Theatre. Hier geht es zu den Episoden.