Verwaiste Straßen, leere Kinosäle und Theater, geschlossene Kaffeehäuser und Clubs – gleichzeitig soviel Zeit in den eigenen vier Wänden, dass man die Maserung seiner Tapeten auswendig kennt. Während ich diesen Text schreibe, ist der dritte Lockdown weiterhin im vollen Gange. Der zehnte Monat der Pandemie, vielleicht nähern wir uns ihrem Ende, vielleicht auch nicht, Vorhersagen gibt es viele und Garantien gibt es keine.

Anzeige
Anzeige

Wirklichkeitszerfall und Beobachterintensität

Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl beschrieb während des ersten Lockdowns unsere neugeordnete Beziehung zur Außenwelt: „Der Wirklichkeitszerfall, den wir gerade erleben, geht mit einer erhöhten Beobachterintensität einher, man spaziert mit geschärften Sinnen durch die Gegend. Jeder Gang nach draußen folgt komplizierten Choreografien.“

Zeit und Raum sind aus den Fugen – das ist das Gefühl, dass uns Corona mitgibt, je länger der Zustand andauert. Die Gegenwart dehnt sich bis in ein fernes Irgendwann aus. Wochentage verschwimmen, alles wird zur Sisyphos-Arbeit, man fährt auf Sicht. Die Einladung zum Zoom-Call lässt auf sich warten, Netflix nicht mehr spannend, im ORF läuft die Regierungsansprache. Everyday is like Sunday und irgendwann ist Frühling.

Aber ungeachtet dieser seltsamen Stasis macht das Weltgeschehen ja trotzdem weiter: unaufhörlich prasseln die Nachrichten auf uns ein, die Eindrücke, das Gepolter der Ereignisse. An die unendlichen Corona-Liveticker, immer wieder neuen Öffnungsstrategien und schwankenden Kurvendiagramme habe ich mich mittlerweile gewöhnt. Aber dass ich inmitten des Lockdowns an einem Donnerstag bis 3 Uhr nachts vorm CNN-Stream klebe, um den Sturm aufs Kapitol live mitzuverfolgen, hat eine andere Qualität. Eine erhöhte Beobachterintensität auch hier: die verwackelten Aufnahmen, die überrumpelten Nachrichtensprecher*innen, die übereilten Tweets, die atemlose Erschütterung, die Schockwellen des Terrors. Da ist es wieder, das Plötzliche und Unvorhergesehene, das in meine statische Welt stürzt.

Mensch als Sehnsucht und Risikofaktor

Wir sind in einem abgekapselten Hier das dauernde Jetzt. Doomscrolling einerseits, Social Distancing andererseits. Sehnsucht nach Menschen, gleichzeitig Mitmenschen als Risikofaktor. Eine ewige Gegenwart, gleichzeitig ein permanentes Neujustieren. Wie gehen wir mit diesen kognitiven Dissonanzen um?

Anzeige
Anzeige

Es wird Aufgabe der Kunst und der Theater sein, diese Dissonanzen einer pandemischen und post-pandemischen Erfahrungswelt zu begleiten, zu sezieren, zu transformieren. Joseph Vogl spekuliert, die neuen Sinneswelten und Alltagschoreografien seien „Experimente zur Erprobung eines neuen Kollektivs“. Lassen Sie es uns gemeinsam erproben, sobald es wieder geht. Everyday is like Sunday und irgendwann ist Premiere.

Zur Person: Matthias Seier

1993 im Münsterland geboren. Er studierte von 2012 bis 2017 Kultur- und Literaturwissenschaften sowie Soziologie in Dortmund und Athen. Ab 2014 arbeitete er als Dramaturgieassistent, seit 2018 als Dramaturg am Schauspiel Dortmund. Seit der Spielzeit 2020/21 ist der Dramaturg am Volkstheater Wien. Seine ersten Produktionen sind „Einsame Menschen" und „Der Theatermacher".

Matthias Seier am Wiener Volkstheater

Weiterlesen

Freie Theaterszene bis renommierte Häuser: Alles Theater?