„Kunst muss weh tun, der Weg anstrengend sein, alle Beteiligten müssen leiden und sich in einem konstanten Zustand der Überarbeitung befinden. Das ist ein Narrativ, das in der Theaterbranche sehr stark verankert ist“, hält die Dramaturgin Jennifer Weiss fest. Mit diesem Bild gehe zudem oftmals ein stark ausgeprägter Geniegedanke einher, unter dessen Deckmantel es zu Grenzüberschreitungen und dem Ausnützen von Machtgefällen kommt. Wie etwa dann, wenn ein regieführender Intendant einem Ensemblemitglied in einer Probe zwischen die Beine greift und sagt: „Das muss von hier kommen“. Die gerade beschriebene Szene stammt aus dem Stück „Nestbeschmutzung“ des interdisziplinär arbeitenden Instituts für Medien, Politik und Theater, zu dem auch Jennifer Weiss gehört.

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Uns geht es um die Systematik hinter solchen Übergriffen und um die Strukturen, die sie ermöglichen.

Jennifer Weiss, Dramaturgin

Nachwachsende Köpfe

Anders als in der im März erschienenen NDR-Dokumentation „Gegen das Schweigen“ werden in dem von Felix Hafner (Regie), Anna Wielander (Journalistin) und Jennifer Weiss (Dramaturgie) konzipierten Abend keine Namen genannt – weder von Täter*innen, noch von Institutionen. „Uns geht es um die Systematik hinter solchen Übergriffen und um die Strukturen, die sie ermöglichen“, so Weiss. Sie fügt hinzu: „Außerdem haben wir gemerkt, dass man alles andere klein macht, wenn man Täter*innen benennt. Man hat plötzlich nur noch die Namen im Kopf. Das passiert in der Regel ja auch, wenn etwas medial aufgearbeitet wird – man stürzt sich auf den einen Fall. Aber es ist nie nur ein Einzelfall. Und es ändert sich insgesamt auch nichts, wenn nur Köpfe ausgetauscht werden und im Grunde alles so weiterläuft wie bisher. Deshalb war es uns auch wichtig, die Aufmerksamkeit auf scheinbare Kleinigkeiten zu lenken – auf Dinge, die normalerweise nicht erzählt werden, die es nicht in die Medien oder vor Gericht schaffen.“

Dass pures Austauschen von Köpfen keine nachhaltigen Veränderungen bewirken kann, wird auch in der Inszenierung thematisiert und der Kulturbetrieb mit der mehrköpfigen Hydra verglichen – schlägt man ihr einen Kopf ab, wächst sofort ein anderer nach.

Im Rahmen des mehr als ein Jahr dauernden Rechercheprozesses kamen rund 200 Stunden Gesprächsmaterial zusammen, etwa 25 Gesprächspartner*innen haben ihre Erfahrungen, Beobachtungen und Reflexionen mit dem Kollektiv geteilt, ohne sich dabei selbst preisgeben zu müssen. „Zusätzlich sind eigene Erfahrungen eingeflossen“, ergänzt Felix Hafner. Auf die Frage danach, was den Anstoß zum Stück gegeben hätte, antwortet er: „Anna Wielander, die Journalistin in unserem Team, recherchiert schon seit etwa zwei Jahren zum Thema Machtmissbrauch in der Kulturbranche. Als Kollektiv tauschen wir uns zudem regelmäßig zu diesen Themen aus.“ Die Zusammenarbeit mit dem Kosmos Theater, wo „Nestbeschmutzung“ seit 4. April zu sehen ist, beschreibt Jennifer Weiss als „glückliche Fügung“. Sie setzt nach: „Ich glaube nicht, dass es viele Theater gibt, denen man dieses Thema pitchen könnte.“

Nestbeschmutzung
„Nestbeschmutzung“ ist ein Stück, in dem die Strukturen und Machtgefälle des Theaterbetriebs selbst Thema sind.

Foto: Bettina Frenzel

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Hinter dem Samtvorhang

Das Anfangsszenario zeigt drei Schauspieler*innen, wie sie sich auf einer Party nach einer Preisverleihung miteinander unterhalten. Wie es zu diesem Setting kam? Sie hätten die Divergenz zwischen der Präsentation der Theaterbranche nach außen und dem, was hinter dem roten Samtvorhang passiert, spannend gefunden, erklärt Jennifer Weiss. Nach einer mehrjährigen Fixanstellung an einem Wiener Stadttheater hat sich die Dramaturgin dazu entschieden, frei zu arbeiten. „Mich haben die Strukturen unter anderem deshalb sehr zermürbt, weil man so viel an Schaumbremsung erfährt. Oft endet es damit, dass man keine Kraft mehr hat, gegen das Festhalten an alten Strukturen anzukämpfen.“

„In diesem Projekt stecken viele Dinge, die mich dazu gebracht haben, darüber zu reflektierten, was bei früheren Theaterproduktionen passiert ist – wo man gewisse Strukturen vielleicht auch selbst mitgetragen hat“, fügt Felix Hafner hinzu.

Calle Fuhr

Calle Fuhr: „Benko-Bashing wäre zu einfach“

In Kooperation mit „Dossier“ bringt Calle Fuhr den „Aufstieg und Fall des Herrn René Benko“ ins Volkstheater. Der Regisseur über die Kunst, aktuelles Tagesgeschehen in eine Bühnenfassung zu gießen, und welche Frage er Benko stellen würde. Weiterlesen...

Neue Ausdrucksformen finden

Begonnen hätte alles mit der damals stets ausverkauften „Fellner-Lesung“, erzählt der Regisseur. „Wir fanden es spannend, in einem Lesungsformat mit Originalmaterial zu arbeiten“, so Hafner. Von Projekt zu Projekt seien die Recherchen immer komplexer und großflächiger geworden, hält er daran anknüpfend fest. „Als Jenny zu uns dazugestoßen ist, haben wir begonnen, unterschiedliche Text- und Theaterformen auszuprobieren. Gerade sind wir dabei, neue Ausdrucksformen zu finden, die über die pure Recherchevermittlung hinausgehen.“

„Uns auszutoben“, merkt Jennifer Weiss lachend an. Recherchetheater kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Wie immer im Theater gilt: Die eine Ästhetik gibt es nicht. „Die wichtigste Frage ist jedoch immer, was wir erzählen und vermitteln wollen“, so Hafner. Antworten werden keine geliefert, aber ein Diskursraum aufgemacht, der im Idealfall weit über den Theaterraum hinaus Fragen aufwirft. „Da wo der Journalismus an seine Grenzen stößt, kann das Theater Fragen und Widersprüche in den Raum stellen, die ausgehalten werden müssen – ohne Anspruch auf eindeutige Antworten“, heißt es auf der Website des Instituts.

Spannend sei auch, dass es mit dieser Herangehensweise gelänge, Menschen abzuholen, die ansonsten vielleicht nicht so oft ins Theater gehen. Bei ihrem Projekt „Gondelgschichten“, das am Tiroler Landestheater zu sehen war und zum Festival „Radikal jung!“ eingeladen wurde, sei das dem Kollektiv in besonderem Maße aufgefallen. „Da sind Leute gekommen, weil es um ein Thema ging, das sie emotional bewegt und in ihrem täglichen Leben beschäftigt. Sie mussten sich nicht erst in etwas hineindenken. Im besten Fall liefern wir darüber hinaus auch Zusammenhänge und Kontexte, die in der medialen Berichterstattung nicht auftauchen“, sagt Felix Hafner, bevor es für ihn und Jennifer Weiss zur zweiten Hauptprobe geht.

Und noch etwas zum eingangs erwähnten, als Deckmantel für Übergriffe fungierenden Geniegedanken: Dank vieler mutiger Stimmen ist er kein Tarnumhang mehr.

Zu den Spielterminen von „Nestbeschmutzung“ im Kosmos Theater!