Draußen wird die Welt gerade von der Pandemie und dem Winter dominiert. In der Kammeroper am Fleischmarkt in der Wiener Innenstadt öffnet sich eine betörende Parallelwelt aus goldenem Stuck, rotem Samt und wunderbaren Melodien von Francesco Cavalli. Sein „Giasone“ wird geprobt. Das Theater ist freilich recht menschenleer und alle Anwesenden durchlaufen vor den Proben Covid-Tests. Nur wenige, für die Produktion essentielle Personen, arbeiten an diesem Tag. Weiter hinten im Zuschauerraum sitzt Angelika Pichler und beobachtet konzentriert jede Bewegung der Sängerinnen und Sänger. „Ich muss die Schauspieler gut kennenlernen und sehen, wie sie mein Kostüm tragen. Es bringt nichts, wenn ich mir etwas ausdenke und eine Schauspielerin vom Charakter her ganz anders ist und sich nicht wohl fühlt. Das Publikum spürt das sofort“, sagt die Kostümbildnerin.
 
Pichler ist Meisterschneiderin und erarbeitete die Kostüme für „Giasone“. Wie sieht der kreative Prozess aus? Zunächst klingt das weniger glamourös als gedacht. „Wir Kostümbildner lesen sehr viel", sagt sie. Zunächst studiert sie das Stück und beschäftigt sich mit dem historischen Grundkonzept. Ihre Entwürfe entwickelt die 33-Jährige mit einer unglaublichen Liebe zum Detail. Als Laie taucht man sofort in ein Universum an Materialien, Techniken und Farben ab, wenn die Künstlerin von ihrer Arbeit erzählt: „Ich kann mich mit alten Schnitten beschäftigen, wie die Kostüme im 17. Jahrhundert ausgesehen haben und aus dem Ganzen wieder etwas komplett Neues machen." 

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Fachgespräche und Teamwork

„Es ist aber kein Sologang“, betont sie. Ihre Arbeit versteht sie als Teamwork, jede Idee wird mit Regisseuren, Bühnenbildnern, Lichtdesignern und der Kostümabteilung abgestimmt und weiterentwickelt. „Wir haben zunächst viele Fachgespräche, jeder bringt sein Know-how und seine Ideen ein ", sagt Pichler. Aus dem Wissen von Vielen entsteht dann eine Kreation, die die Einzigartigkeit des künstlerischen Moments auf der Bühne unterstreicht.

Spiel mit „Abwesenheit“ von Farbe

Auf welches Konzept hat sich das Team im Fall von „Giasone“ geeinigt? Pichler erzählt von den Überlegungen: Francesco Cavalli (1602-76) war einer der Ersten, der sich in Venedig der neuen Gattung Oper widmete. „Giasone“ hatte bereits alle Charakteristika der später so vielfältigen venezianischen Oper, die von einer ausgewogenen Mischung aus ernsten und komischen Szenen geprägt sein wird, in denen sich expressive Rezitative mit eingängigen, schlagertauglichen Gesängen abwechseln. Cavalli und sein Librettist Cicognini änderten die antike Sage zudem ab, denn das Publikum erwartete während des Karnevals deftige Unterhaltung mit Happy End und keine blutigen Tragödien. So verwundert es nicht, dass die Oper schon bei der Uraufführung 1649 ein Hit wurde.

„Wir hatten also ein sehr erfolgreiches Stück der Karnevalszeit in Venedig. Die Frage war: Machen wir eine Kostümschlacht oder das Gegenteil?“, so Pichler. Das Team einigte sich auf Purismus. „Das war für uns die Farbe Weiß. Wir wollten eine Art Prototyp kreieren, den man frei interpretieren kann und dadurch eine futuristische Welt erschaffen.“ Die Idee habe sich auch auf die Materialen ausgebreitet: So gibt es Elemente im Kostümbild, die sehr historisch sind. Diese wurden durch moderne Materialien und Technologien verfremdet und haben dadurch einen komplett neuen Flair bekommen. Zum Einsatz kamen etwa Lacercut-Kunstleder und Neopren.

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Facetten der Persönlichkeit durch Kostüme betonen

Pichler zeigt auf die Skizzen, die auch zur Orientierung der Sängerinnen und Sänger an einer Wand des Saals hängen und erklärt. So gebe es zwei Gruppen: Ercole, Alinde, Oreste stehen für ein neuzeitliches Kostüm – eine Businesslady, ein Macho, ein Bürokrat. Auf der anderen Seite befindet sich die futuristische Welt: Alle Figuren haben weiße Haare. Die Kostüme sind historisch angehaucht. Die Frauen haben lange Kleider. Das Kostüm von Giasone ist an die Bekleidung eines Torero angelehnt. Medea ist die klassische Kämpfernatur. „Sie ist eine Powerfrau, wird aber im Laufe des Stücks sehr verletzlich. Jede Figur hat mehrere Seiten, die ausgespielt werden“, sagt Pichler.
 
„Die neuzeitlichen Figuren haben noch farbliche Elemente, wenn sie in das Stück reinkommen. Sie glauben, dass sie die anderen manipulieren können, aber da irren sie sich. Am Schluss sind dann alle weiß, sie verlieren ihre bunten Kostümteile“, sagt Pichler.

Das Ensemble von „Giasone" in den Kostümen von Angelika Pichler: Valentina Petraeva als Medea, Ivan Zinoviev als Oreste, Miriam Kutrowatz als Alinda, Rafał Tomkiewicz als Giasone, Ekaterina Protsenko als Isifile, Benjamin Chamandy als Ercole, Andrew Morstein als Egeo.

Foto: Herwig Prammer/Theater an der Wien

Kreatives „Hochschaukeln“

Pichler scheut keine anspruchsvollen Techniken, solange es der Budgetrahmen hergibt: „Im Theater gibt es viele Leute, die auf spezielle handwerkliche Techniken spezialisiert sind. Heute wirkt das ja sehr aufwendig, in der Alltagsmode können manche Verarbeitungen preislich gar nicht mehr angeboten werden.“ Ein Beispiel sei Egeos Brustpanzer, der mit Rosshaareinlage pikiert wurde. „Das ist eine Technik, bei der mit der Hand aufwendig eine Stofflage auf eine weitere aufgebracht wird. In der Herrenschneiderei wird das Pikieren noch bei Sakkos von Maßanzügen angewendet. „Das Pikieren von Hand kennen und können nur noch wenige Leute. Aber es sieht top aus und hält ewig“, sagt Pichler.
 
Es kann nicht schaden, als Kostümbildnerin das Handwerk gut zu können und passend zu den Stücken einzusetzen. Durch das Studium Modedesignpädagogik und die Ausbildung zur Meisterschneiderin konnte sie ihre Kenntnisse vertiefen, was sie für ihre Arbeit zentral findet. „Durch das hohe fachliche Niveau und die tolle Arbeit der Kostümschneiderei können wir uns gegenseitig kreativ hochschaukeln. Dadurch ergeben sich extrem viele Möglichkeiten“, schwärmt Pichler.

Eigene Schneiderei des Theaters an der Wien

Geschneidert werden die Kostüme in der eigenen Schneiderei des Theaters an der Wien. „Das ist natürlich eine irre gute Qualität. Es ist für mich auch ein Wunschkonzert, denn ich kann mir etwas überlegen und das wird auf die Person angepasst. Das reicht vom Aussuchen des Stoffes bis hin zur Frage, wie breit der Kragen ist.“

Da es – in „normalen“ Zeiten ohne Pandemie – immer viele Produktionen gleichzeitig herzustellen gilt, gibt es recht lange Vorlaufzeiten. Es wird nach Möglichkeiten und Dringlichkeit gestaffelt, der logistische Aufwand ist groß. Bei „Giasone“ wurde bereits im August letzten Jahres angefangen, um die damals für November geplante Premiere zeitlich zu schaffen.

Neue Welt für einen Abend erschaffen

Die Vorstellungen mussten nun verschoben werden. Die Freude auf eine Zeit, wenn wieder gespielt werden kann, ist groß – auch bei Pichler. „Kunst und Kultur sollten ja Folgendes erreichen: Menschen aus ihrem Alltag herausholen und ihnen zeigen, dass es auch etwas Anderes gibt.“ Ein Ansatz von Kultur, der heute wichtiger denn je erscheint.

Zur Person

Angelika Pichler (33) arbeitet seit 15 Jahren in den Bereichen Kostüm, Mode und Design. Sie absolvierte die Meisterklasse für Haute Couture in Wien, erhielt den Meistertitel für Damenkleidermacher und studierte im Fach Mode- und Designpädagogik an der PH Wien. Seit 2008 ist sie international als Kostümbildnerin und Ausstatterin im Theater und Film tätig und arbeitete unter anderem für Neue Oper Wien, teatro, Theater Forum Schwechat, Carinthischer Sommer und dem Theater Rampe. Die Kooperation mit Kenya Art Projects führte sie nach Nairobi, wo sie mit Jugendlichen aus Armenvierteln ein Theaterstück umsetzte. Neben ihrer Kostümarbeit entstanden im Bereich Corporate Fashion unter anderem Designs für Alpha Tauri von Red Bull. Darüber hinaus fertigt die Modedesignerin mit ihrem Label Atelier Angelika Pichler exklusive Kollektionen und Maßanfertigungen.

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