Als wir Kay Voges im Sommer 2020 auf einem Meidlinger Fußballplatz trafen, um über Offensivtheater und seine Pläne für das Volkstheater zu sprechen, war das Haus am Arthur-Schnitzler-Platz noch eine Baustelle. Passend zum Ort des Zusammentreffens fiel damals der vor allem in der österreichischen Hauptstadt bekannte Satz: „Des is ka Haus, des is a Häusl.“ Heute, fast fünf Jahre später, ist davon nichts mehr zu spüren – das Volkstheater hat sich zur innovativsten, wildesten und im besten Sinne unberechenbarsten Theaterbühne der Stadt entwickelt. Zu einer richtig coolen Hütte. Was diese Hütte noch ein bisschen cooler macht, ist, dass es darin ein Häusl gibt, durch das man aufs grün gestrichene Dach des Theaters gelangt. Als Kay Voges hier mit seiner Truppe einzog, wurde auch ebenjenes gerade frisch saniert. Nach oben hin war zu diesem Zeitpunkt also noch alles offen – trotz intensiver Sanierungsarbeiten glücklicherweise mehr sprichwörtlich als buchstäblich.

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Wenige Wochen bevor sich der in Krefeld aufgewachsene Intendant zur Gänze seinem neuen Haus, dem Schauspiel Köln, widmet, verschafft er sich – vom Dach des Theaters aus – noch einmal einen Überblick über Wien. Eine Stadt, die Voges während seiner Intendanz nie so ganz zu durchblicken vermochte. 

„Ist das wirklich die Liebe zur Kunst, oder liegt es daran, dass Österreich so schlecht Fußball spielt?“

Kay Voges über die Tatsache, dass in der „ZIB“ über Theater berichtet wird.

Ins Gelingen verliebt sein

Nicht ganz unglücklich über die wieder­erlangte Bodenhaftung sitzen wir schließ­lich im Büro des Intendanten. Durch die offenen Fenster dringt ein bisschen Großstadtsound in den hellen Raum mit dem großen, in der Mitte platzierten Tisch. Um an den gerade unternomme­nen Ausflug aufs Dach anzuknüpfen, fragen wir, ob ihn nun der Ausblick auf Köln oder der Rückblick auf Wien mehr beschäftigen würde. „Weil es eine extrem prägende und auch sehr herausfordernde Zeit war, werden mich diese fünf Jahre hier in Wien noch lange nicht loslassen. Momentan ist die Situation ein bisschen bizarr, weil meine Teams und ich an einem Abschiedsbuch für Wien und an einem Spielzeitbuch für Köln arbeiten“, so Voges mit ruhiger Stimme. 

Vieles sei gelungen, resümiert der gebürtige Düsseldorfer. „Wir sind lesbar geworden, haben ein eigenständiges Profil für dieses Haus entwickelt. Die Menschen wissen jetzt, was man am Volkstheater bekommt und was man nicht bekommt. Wenn ich auf den Anfang zurückblicke, auf die Sanierung, die Lockdowns, die wenigen Abos und das wenige Interesse vonseiten der Stadt, bin ich schon sehr stolz. Wir mussten uns diese Stimme ordentlich erkämpfen, aber wir werden definitiv gehört.“ 

Auf jeden Fall. Denn leise war das Volkstheater in den letzten Jahren nie. Auch in politischer Hinsicht zeigte man stets klare Kante. „Wir haben uns damit angreifbar gemacht und einen Ort der Auseinandersetzung mit Gegenwart etabliert. Und auch einen Ort, der stets seine Stimme für den Humanismus erhoben hat. Dafür haben wir eine Menge Anfeindungen bekommen, aber auch eine Menge Freund*innen gewonnen. Ich glaube mittlerweile, dass es nirgends leichter ist, den Stempel eines Linksextremisten aufgedrückt zu bekommen, als in Österreich.“ In diesem Zusammenhang sind vor allem die szenische Lesung mit der Rechercheplattform Correctiv und die ausverkaufte und rund 15.000-mal gestreamte Lesung „Die Tagesordnung“ in Erinnerung geblieben. Aber auch die Wahlparty zur Nationalratswahl 2024, bei der das Haus rappelvoll war. 

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Kay Voges Volkstheater
Nach fünf Jahren in Wien geht es für Kay Voges als Intendanz ans Kölner Schauspiel.

Foto: Marcel Urlaub

Auf der Welle

Ob es sich nicht falsch anfühle, genau jetzt zu gehen, wo sich das Schiff auf Kurs befindet? Kay Voges überlegt einen Moment und antwortet: „Auf der einen Seite ist es bestimmt ein Fehler, weil es eine kontinuierliche Kurve nach oben gibt. Wir haben diese Welle erklommen und könnten jetzt auf ihr reiten. Auf der anderen Seite freue ich mich, an den Rhein zu kommen, wo viele Freund*innen von mir leben, wo ich Familie habe und mir einfach die Mentalität viel näher ist. Man geht in eine Kneipe, und plötzlich kennt man den halben Laden. Da sind die Wiener*innen schon sehr viel skeptischer und misstrauischer.“ 

Wurde er eigentlich vor Wien gewarnt? So wie einige Jahre später Festwochen-Intendant Milo Rau, der in einem Interview meinte, er sei in Brüssel verabschiedet worden, als ginge er an die Front. „Mir wurde gesagt, dass man, wenn man in Wien berühmt werden möchte, möglichst schnell sterben sollte. Das ist zwar ein Schmäh, aber es ist durchaus etwas dran, denke ich. Mein Glück war, dass ich nicht berühmt werden, sondern einfach gutes Theater machen wollte“, bringt es Kay Voges auf den Punkt.

Er habe die Stadt auf jeden Fall unterschätzt, fügt er hinzu. „In Wien gibt es eine Selbstgefälligkeit, die ich aus deutschen Städten nicht kenne. Da heißt es eher: Woanders is’ auch scheiße.“ Auf der anderen Seite sei die Aufmerksamkeit, die das Theater in Wien erfährt, schon einzigartig, hält er daran anknüpfend fest. In Deutschland gebe es keine großen Nachrichtensendungen, die über Theater berichten, in Wien kämen Premieren auf den großen Bühnen schon einmal in der „ZIB 2“ vor. „Ich frage mich: Ist das wirklich die Liebe zur Kunst, oder rührt das einfach daher, dass Österreich so schlecht Fußball spielt?“, so der Intendant und Fußballfan augenzwinkernd. Er lacht. Im nächsten Moment durchsucht er sein Smartphone nach einem Zitat von Thomas Bernhard, in dem es um dessen Verhältnis zu Wien geht. Damaliger Beziehungsstatus: Es ist kompliziert. Selbiges könnte man auch über Voges und die österreichische Hauptstadt sagen. 

Kay Voges Volkstheater

Foto: Marcel Urlaub

Der große Schlusspfiff

Vermissen werde er vor allem die großartigen Mitarbeiter*innen des Volkstheaters, „die zu ihrem Haus stehen und es lieben“. Darüber hinaus gab es natürlich auch eine Reihe an Momenten, die er für immer mit der coolen Hütte am Arthur-Schnitzler-Platz in Verbindung bringen wird. „Zu Silvester lief bei uns ‚Camino Real‘ mit der fantastischen Band Calexico. Ich habe kurz reingeschaut und gesehen, dass die Zuschauer*innen mitten in der Vorstellung aufgestanden sind, um zu tanzen. Das hat mich so berührt, dass ich tatsächlich ein Tränchen verdrückt habe.“ 

Neben „Camino Real“ entwickelten sich auch „Krankheit oder moderne Frauen“ und „Fräulein Else“ zu wahren Publikumsmagneten. Claudia Bauers vielfach ausgezeichnete Inszenierung „humanistää!“ mit Publikumslieblingen wie Samouil Stoyanov, Elias Eilinghoff und Bettina Lieder war ohnehin ein Dauerbrenner. „Das tut unglaublich gut und macht das Gehen auch nicht leichter“, hält Kay Voges fest. 

Und was ist nicht gelungen? Der Intendant muss nicht lange überlegen: „Die größte Niederlage war die Absage von ‚Der eingebildete Kranke‘. Eine Produktion gar nicht rauskommen zu lassen, ist für ein Theater natürlich das Worst-Case-Szenario.“

„Bleibt so neugierig, wie ihr es ­zuletzt gewesen seid. Und habt den Mut, euch irritieren zu lassen!“

Kay Voges, Intendant

Bei einer so sehr in der Gegenwart verankerten Kunstform wie dem Theater gehe es natürlich auch immer darum, den richtigen Moment zu erwischen. Manchmal sei ihnen genau das nicht gelungen, so Voges. Oder um es mit der Band Tocotronic zu sagen: Die Idee war gut, doch die Welt noch nicht bereit dafür. „Alles hat seine Zeit. Im Nachhinein denke ich, dass wir mit unserer Inszenierung von ‚Die Politiker‘ zu früh dran waren. Hätten wir das Stück vor einem halben Jahr auf die Bühne gebracht, wäre es durch die Decke gegangen. Man hätte unsere Sprache einfach schon viel besser verstanden.“ 

Nach dem Schauspiel Dortmund und dem Volkstheater ist das Schauspiel Köln nun das dritte von Sanierungsarbeiten betroffene Theater, das Voges übernimmt. „Mittlerweile weiß ich nicht nur, wie man ein Theater leitet, sondern auch, wie man ein Theater saniert“, sagt er lachend. 

„Mein Leben lang versuche ich“, hat er in einem Interview einmal den Dramatiker Heiner Müller zitiert. Der ständige Versuch und die darin enthaltene Suche – nach Schönheit, Gemeinschaft und konstruktiver Auseinandersetzung mit Gegenwart – sind es auch, die den Theatermacher und Intendanten nach wie vor antreiben. Dass jeder dieser Versuche auch scheitern kann, liegt in der Natur der Sache. 

Wenn dieses Heft erscheint, ist der Startschuss zum großen Showdown bereits gefallen. Am 18. Mai folgt dann der Schlusspfiff. Wobei „Pfiff“ in Sachen Lautstärke und Intensität eindeutig tiefgestapelt ist. Das Volkstheater-Ensemble wäre nicht jenes Ensemble, das wir in den vergangenen Jahren kennen und lieben gelernt haben, wenn es mit einem „leisen Servus“ vom Platz ginge. 

Bevor das alles passiert, möchte Voges den Wiener*innen aber noch eine Sache mitgeben: „Bleibt so neugierig, wie ihr es zuletzt gewesen seid. Habt den Mut, euch irritieren zu lassen!“

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