Wir gehen am Donaukanal entlang. Julian Valerio Rehrl schaut gedankenverloren aufs Wasser. In letzter Zeit war er selten hier, da war ihm zu viel los. Aber vor mehr als einem Jahr, als er in den Kammerspielen „Der Sohn“ probte, kam er her, um sich mit dem schwierigen Thema des Stücks zu beschäftigen, das ihm gleich in seiner ersten Saison an der Josefstadt einen großen Erfolg bescherte: Er spielt darin einen depressiven 17-Jährigen, der sich immer mehr von seinen Freunden und seiner Patchwork-Familie zurückzieht. „Auf Wasser zu schauen kann ja auch ein depressives Moment haben“, sagt Rehrl. „Ich habe überlegt, wie es Nicolas ginge, würde er hier entlangspazieren, und mich bewusst dem Alleinsein ausgesetzt, um ihn besser verstehen zu können.“

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Bei allen Unterschieden zu seinem eigenen Charakter und Lebensweg fiel es dem 23-jährigen Schauspieler nicht schwer, sich für Florian Zellers intensives Kammerspiel auf die Darstellung des sensiblen Jugendlichen einzulassen: „Es treten Gefühle und Situationen auf, die man selbst kennt, jedoch um ein Vielfaches potenziert.“ Was ihm vertraut war, war „das Gefühl, nicht zu genügen. Das ist in uns allen verankert. Natürlich ist es bei Nicolas stark gesteigert, aber wenn ich eine schlechte Probe hinter mir habe, fühle ich mich auch generell schlecht.“ Wenngleich er dies natürlich nicht mit einer schweren Krankheit wie Depression vergleichen möchte.

Gläserne Momente

Rehrl, der an der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin ausgebildet und direkt danach an die Josefstadt engagiert wurde, half sich auch mit einer körperlichen Herangehensweise. Im Hinterkopf hatte er Werke Egon Schieles, in denen Gliedmaßen wie falsch zusammengesetzt wirken. 

„Ich habe versucht, die Depression in meinen Körper zu legen – man soll durch meine Bewegungen sehen, dass die Situation die ganze Zeit auf der Kippe steht.“ Der Passivität der Depression sollte just Aktivität entgegengestellt werden, um diese auf besondere Art sichtbar zu machen, so Rehrls Devise. „Es geht um Hände, die ich nicht stillhalten kann, um ein Knabbern an Fingernägeln, um einen Pulli, dessen Ärmel zu lang sind, sodass ich sie immer vorziehe, um meine Hände zu verstecken.“ 

Es macht mir Spaß, Ausgeliefertsein und Schamgefühl zu spielen."

Julian Valerio Rehrl

Gerade die gläsernen Momente sind es, die Rehrl nun an diesem Stück besonders liebt, die Schwebezustände, in denen seine Figur zwar sagt, es sei alles gut, man aber wisse, dass es ihr nicht gut gehen kann. Generell ist es „dieses Mit-sich-Ringen, wer man ist, dieses Nichtwissen, wo man in der Welt steht“, das Rehrl an seinem beruflichen Tun reizt. „Ich liebe Figuren, die versuchen, Verschiedenstes auf einen Nenner zu bringen, ohne dass es funktioniert.“ Auch wenn es paradox sei, „macht es mir Spaß, Ausgeliefertsein und Schamgefühl zu spielen. Eine der schönsten Aufgaben ist es, sich mit der Peinlichkeit des Schmerzpunktes einer Figur auszusetzen, das Herz aufzumachen und dadurch verletzbar zu sein.“

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Auch wenn Nicolas hier im Umgang mit seinen Eltern ion die ganze Familie.

Foto: Moritz Schell/Theater in der Josefstadt

Blindheit ohne Klischees

Verletzlichkeit zu spielen war auch großes Thema in der dystopischen José-Saramago-­Adaption „Die Stadt der Blinden“, in der Rehrl aktuell mehrere Rollen übernimmt und in der die Bewohner einer Stadt von einer mysteriösen Blindheit ­befallen werden. Wie auch bei „Der Sohn“ ins­zenierte Stephanie Mohr, bei der Rehrl sich gut aufgehoben fühlt. 

„Es war herausfordernd zu spielen, dass man blind ist, ohne in ein Klischee zu verfallen. Wir haben uns gefragt, wie wir jemanden ansehen, den wir nicht erkennen können. Man verlässt sich dann auf ganz andere Sinne. Wenn das wirklich funktioniert, ist es ein tolles Gefühl.“

Dass er einerseits den Minister verkörpert, der die Blinden kaserniert, andererseits aber auch selbst einer der Eingesperrten ist, macht ihm Freude. „Was mich interessiert, ist auch der Übergang zwischen den Figuren – und die darin liegende Brüchigkeit.“

Und ebenso wie bei Nicolas und den ­Saramago-Figuren suche er auch in „Der Weg ins Freie“ die „Seelenverwandtschaft“ zu sich selbst. In der Arthur-Schnitzler-­Adaption spielt er Leo Golowski, der aufgrund der sich immer weiter zuspitzenden politischen Lage rund um die Jahrhundertwende zum Zionisten wird. „Auch er ist ein Außenseiter, aber einer, dem der Witz nicht abhanden kommen darf. Es geht um die Zerrissenheit eines Menschen, der zunächst sarkastisch mit der Situation umgeht, aber durch das, was er erlebt, in den Extremismus kippt.“

Einstimmung mit Lars von Trier

Auf einmal reißt uns ein Radfahrer aus dem Interview, der lautstark Musik von Richard Wagner hört – ja, auch das hat für Rehrl mit Nicolas und „Der Sohn“ zu tun: Oft ließ er das Prélude aus „Tristan und Isolde“ laufen, während er zur Vorstellung fuhr. 

Aber nicht wegen Wagner, sondern weil er dabei an den Film „Melancholia“ von Lars von Trier erinnert wurde. „Trier hat eine tolle Bildsprache für Depression gefunden. Das erdrückende Gefühl, wenn der Planet Melancholia unausweichlich auf die Erde zurast und die ganze Welt zermalmen möchte: Die Szene versetzt mich in die richtige Stimmung für Nicolas.“ 

Extreme Gefühle sind es, die ihn auch in Zukunft reizen, sagt er, als wir den Weg zurück in Richtung Kammerspiele einschlagen: „Kleine Gefühle kann ich auch im Privaten erleben, mir geht es auf der Bühne um die ganz großen Momente.“

Zur Person:

Direkt von der Ernst-Busch-Hochschule in Berlin wurde Rehrl an die Josefstadt en­gagiert, wo er schon in „Einen Jux will er sich machen“ und „Der Sohn“ spielte. Als Jugendlicher war er als Synchronsprecher tätig und spielte u. a. in „Polizeiruf 110“.

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