Wien-Aspern, Probebühne des ­Theaters in der Josefstadt. Mehrere ­Schauspieler führen Kollegen durch den Raum, die spielen, dass sie blind sind. Eine gängige Übung am Theater, doch diesmal mit besonderer Bedeutung. Denn Regisseurin Stephanie Mohr arbeitet mit dem Ensemble an „Die Stadt der Blinden“ nach dem Roman von José Saramago. Es ist eine Endzeit-Vision, in der nach und nach alle Menschen auf mysteriöse Art erblinden. Eine Epidemie bricht aus, Erkrankte werden in Quarantäne gesteckt, niemand weiß, wie die Ausbreitung in den Griff zu kriegen ist.

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Dass uns das alles mehr als bekannt vorkommt, ist kein Zufall. „Herbert Föttinger und ich suchten dezidiert nach einem Stück, das die Pandemie-Situation aufgreift“, erzählt Mohr. „Wir wussten natürlich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, wie sehr wir jetzt immer noch und mehr denn je drinnenstecken.“ Man entschied sich für Saramagos Dystopie-­Roman, der 1995 erschienen ist und seither als Film (2008 mit Ju­lianne Moore und Mark Ruffalo) ebenso für Beklemmung sorgte wie auf Theater- und Opernbühnen. Nun schuf Thomas Jonigk eine Fassung für das Theater in der Josefstadt.

Es ist 8.30 Uhr in der Früh. ­Regisseurin Stephanie Mohr und ihr erster Kaffee am Morgen.

Foto: Peter Rigaud

Ähnlich und doch anders

Doch auch wenn das Stück angesetzt wurde, um unsere aktuelle Situation künstlerisch zu reflektieren, möchte Mohr das Werk nicht darauf reduziert wissen: „Selten hat man ein Stück, das so sehr etwas beschreibt, was uns alle gerade beschäftigt. Aber ich sehe die Situation überhaupt nicht als identisch an.“

Bei Saramago werden die Blinden rasch von der Regierung in einer Art Lager unter Quarantäne gestellt. „Es ist ja etwas ganz anderes, wenn man in einer vertrauten Umgebung, daheim, bleiben soll, um andere zu schützen, als wenn man in einer ehemaligen Irrenanstalt mit Unbekannten auf engstem Raum und bei schlechter Versorgung weggesperrt wird“, beschreibt Stephanie Mohr. „Das Spannende ist, dass Saramago immer sagte, er möchte über Unvorstellbares schreiben – und jetzt ist es zum Teil Realität geworden. Aber es kann nicht darum gehen, sich daran abzuarbeiten, die Parallelen zu suchen. Und mir geht es auch nicht darum, polemisch gesagt, Fremdtexte aus der ‚Zeit im Bild‘ einzubauen, um zu zeigen, wie klug wir alles begriffen haben. Mir ist es wichtig, sub­kutan mit dem Thema zu konfrontieren.“

Die Technik der Probebühne in Wien-Aspern.

Foto: Peter Rigaud

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Auf Urtriebe zurückgeworfen

Bei Saramago wird das Leben in der Anstalt, je mehr Blinde hinzukommen, immer mehr zum Kampf um Essen, Schlafplätze, schließlich ums Überleben. Was mit Wortgefechten beginnt, endet in Vergewaltigungen und Mord. Inmitten des Chaos greift der Autor eine Gruppe zufällig Zusammengewürfelter auf, unter denen eine einzige Sehende ist, die jedoch vorerst niemanden wissen lässt, dass sie ihr Augenlicht noch hat.

Gerade für diese Frau, die von Sandra Cervik verkörpert wird, inter­essiert sich Mohr besonders: „Sie hat automatisch Macht. Die spannende Frage ist, wie setzt sie diese ein, legt sie ihre Besonderheit offen? Und welche Verantwortung bringt diese Macht mit sich?“ Fragen, die sie mit den Schauspielern ebenso intensiv diskutiert wie die Verrohung der Gesellschaft, die durch die um sich greifende Blindheit auf Urtriebe zurückgeworfen wird. Sie sei als Regisseurin „keine, die sich zurücklehnt, den Schauspielern zuschaut und nach fünf Wochen aussucht, was sie möchte“.

Vielmehr entwickle sie „mit klarem Grundkonzept und -gefühl“ gerne Inszenierungen im Team. Dass sie einige Darsteller kennt, erleichtert die Arbeit gerade an diesem anspruchsvollen Text: „Mit dieser Vertrauens­basis geht man besser in eine so komplizierte Sache hinein.“

Peter Scholz beim Studium des Textes vor der Probebühne in Wien-Aspern.

Foto: Peter Rigaud

Hören statt sehen

Auch zwischen dem Publikum und den Darstellern möchte Mohr eine besondere Verbindung herstellen. Dabei werde Akustisches „ein wesentlicher Faktor sein, ist doch der einzige Sinn, den Zuschauer und Erblindete teilen können, das Hören“. Indem sie weniger drastische Bilder vorführen, sondern vielmehr die Situation suggestiv vermitteln will, möchte sie helfen, mit den Geschehnissen umzugehen. Diese schnüren einem oft schier die Kehle zu.

In Sachen Blindheit gibt es etwas, was Mohr als besonders frappant ansieht: „Dass Saramago eine weiße Blindheit wählt, nicht die ewige Dunkelheit“. Für sie jedoch ist „das Weiße erschreckender als das Dunkle“. Außerdem sei die Blindheit, die ­Saramago beschreibt, mehr als der Verlust des Augenlichts. Eine Blindheit des Herzens, eine Unfähigkeit, den anderen wirklich wahrzunehmen, Gut und Böse zu unterscheiden.

Die Frage nach dem Sinn

Eine Frage brennt während des ganzen Interviews auf den Lippen – und sie ist provokant: Will derzeit jemand ein Stück über Epidemie und Quarantäne sehen?

„Die Leute, die jetzt keine Katastrophenfilme anschauen wollen, werden wir damit nur schwer erreichen“, sagt Regisseurin Stephanie Mohr mit ironischem Unterton. Und dann ernst: „Aber jene, die reflektieren wollen und sich durch Kunst in einer Gemeinschaft mit den Themen der Zeit auseinandersetzen wollen, schon. Wir können keine Antworten liefern, aber die wichtigen Fragen stellen.“

Jedenfalls hoffe sie, so Mohr, „dass das Stück so lange läuft, dass wir dann auf die aktuelle Zeit zurückschauen und uns sagen können: So etwas Schlimmes wie bei Saramago haben wir nicht erlebt.“

Zur Person: Stephanie Mohr

geboren 1972 in Genua, lebt in Wien. Mohr inszenierte am Burgtheater Wien, Stadttheater Klagenfurt, Landestheater Linz, bei den Vereinigten Bühnen Wien sowie an einigen deutschen Bühnen. Am Theater in der Josefstadt arbeitet sie seit 2007 regelmäßig. Mohr ist die Tochter der kürzlich verstorbenen Künstleragentin Doris Fuhrmann.

Hinweis: Die Premiere von „Die Stadt der Blinden" hätte am 18.2. stattfinden sollen. Sie wurde aufgrund der Corona-Maßnahmen auf unbestimmte Zeit verschoben.

Aktuelle Informationen: Der Spielplan des Theater in der Josefstadt wird laufend angepasst

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