Drei Tage vor der Wien-Premiere von „Afterlives“ treffen wir Marielle Schavan via Zoom. Die Autorin, Theatermacherin und Performerin ist Gründungsmitglied des Theaterkollektivs Henrike Iglesias, das seit 2012 besteht. Mit der interaktiven Performance „Afterlives“ ist das Kollektiv bereits zum fünften Mal im brut zu Gast.

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BÜHNE: In „Flames to Dust“, eurer letzten Arbeit, die in Wien zu sehen war, habt ihr euch bereits mit dem Tod auseinandergesetzt. Hattet ihr danach das Gefühl, dass ihr noch nicht alles erzählt habt, was euch rund um dieses Thema wichtig ist?

Marielle Schavan: Wir haben bei „Flames to Dust“ gemerkt, dass wir gerne noch viel tiefer in die Frage eintauchen würden, was Abschied vor allem für queere Communities bedeutet. Darüber hinaus endet „Flames to Dust“ ein bisschen mit der Frage, was wäre, wenn es noch eine andere Realität gäbe, in der wir vielleicht eine ganz andere Form oder Körperlichkeit haben. Über diese Fragestellung haben wir uns der Quantentheorie angenähert, die nun wieder eine Rolle spielt. Wobei die Gleichzeitigkeit von Räumen und Realitäten bei „Afterlives“ noch viel stärker in den Vordergrund rückt. Dazu kam, dass wir die in Thailand arbeitende Künstlerin Miss Oat kennengelernt haben, die sich in ihrer Arbeit ebenfalls mit queerer Politik beschäftigt. Zum Zeitpunkt unseres Kennenlernens forschte sie zudem auch gerade zum Thema Tod. Dadurch wurde uns erst so richtig bewusst, dass der Tod in der thailändischen Kultur eine ganz andere Bedeutung hat. Verstorbene sind viel präsenter in der Gesellschaft und der Tod weitaus weniger tabuisiert, als das in unserer Kultur der Fall ist. Über all diese Aspekte sind wir zum Thema der Vernetzung und Verbundenheit gekommen. Und auch zur Frage, wie wir mit Menschen verbunden sind, die wir nicht sehen, die wir vielleicht auch niemals treffen, von denen wir nur in den Nachrichten hören oder die wir nur in digitalen Räumen sehen. Was steckt hinter dieser Verbundenheit und inwiefern teilen wir, obwohl wir einander physisch vielleicht nie begegnen, dennoch die Verantwortung für die gemeinsame Realität?

Wie habt ihr Miss Oat und ihr Kollektiv Miss Theatre kennengelernt?

Das war beim Internationalen Forum des Berliner Theatertreffens. Wir haben mit Henrike Iglesias einen Workshop gegeben, an dem Miss Oat teilgenommen hat. Wie wir in unserem Kollektiv arbeitet auch sie häufig mit popkulturellen Referenzen, außerdem sind ihre Arbeiten – genauso wie unsere ­– von einem queer-feministischen Ansatz geprägt. Als wir dann festgestellt haben, dass wir in beiden Kollektiven gerade an ähnlichen Themen forschen, wurde die Sache immer konkreter.

Afterlives
Das Publikum hat die Möglichkeit, mit den eigenen Smartphones zu interagieren.

Foto: Paula Reissig

Wie hat die Zusammenarbeit ausgesehen? War die Distanz zwischen Berlin und Bangkok eine große Herausforderung?

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Wir haben zuerst zwei Wochen in Berlin und dann zwei Wochen in Bangkok geprobt. Danach haben wir digital weitergeprobt, was teilweise schon herausfordernd war, weil die Technik auch nicht immer so mitgespielt hat, wie wir uns das vorgestellt haben. Die gemeinsame Zeit war aber auf jeden Fall eine wichtige Grundlage.

Ihr habt „Afterlives“ in Berlin bereits gezeigt. Gab es überraschende Rückmeldungen aus dem Publikum?

Ich fand unter anderem spannend, dass es in Berlin Zuschauende gab, die in Miss Oat, die ja nur digital anwesend war, eine Art von Geist gesehen haben – eine geisterhafte Erscheinung, die für die Anwesenheit der Verstorbenen steht. Und auch in Bangkok kam die Rückmeldung, dass Sophia von manchen Zuschauenden als die verstorbene Mutter gesehen wurde. Das hatten wir gar nicht so intendiert, aber wir fanden es total spannend. Außerdem wurde sehr viel darüber reflektiert, was für andere Arten von Anwesenheit es gibt. Was braucht es, um anwesend zu sein oder um jemanden als anwesend zu empfinden? Und wie könnte das unter anderem für Trauerprozesse genutzt werden?

Wie politisch ist eigentlich der Tod? Und wie politisch aufgeladen das Sterben?

Es gibt zwei Aspekte, über die wir in diesem Zusammenhang sehr viel gesprochen haben. Von Judith Butler gibt es ein Buch mit dem Titel „Frames of War: When is life grievable?“, in dem sie darüber nachdenkt, wie westliche Medien staatliche Gewalt inszenieren und so einen Rahmen kreieren, in dem darüber entschieden wird, welche Leben und Tode betrauert werden. Und auch darüber, was es braucht, um überhaupt Trauer empfinden zu können. Im Moment lesen wir sehr viel von toten Menschen in Kriegsgebieten – was löst das in uns aus und wie unterscheidet sich das Gefühl von jenem, das wir empfinden, wenn ein Mensch in unserem Umfeld stirbt? Das ist ein großes Thema, mit dem wir uns im Laufe der Probenzeit immer wieder beschäftigt haben. Zum anderen haben wir darüber nachgedacht, wer überhaupt das Privileg hat, so zu sterben, wie er*sie sich das wünscht. Wer bestimmt diese Dinge? In den meisten Fällen sind das die direkten, biologisch anerkannten Familienmitglieder und nicht die chosen family. Es gibt auch Beispiele, wo es nach dem Tod plötzlich keine Akzeptanz mehr dafür gab, dass sich die Person dazu entschieden hat, ihre Gender identity zu ändern. Was bleibt also von der Identität, die ich mir im Laufe meines Lebens aufgebaut habe, wenn ich nicht mehr lebe? Bleibt die so bestehen oder nicht?

Afterlives
„Afterlives“ findet gleichzeitig in Nonthaburi (Thailand) und Wien statt.

Foto: Paula Reissig

Vermischen sich in eurer Arbeit persönliche Erlebnisse und Erfahrungen mit theoretischen Texten, wie mit jenem von Judith Butler? Könnte man eure Arbeitsweise so zusammenfassen?

Wir suchen uns schon immer Themen aus, die wir als gesellschaftlich und politisch relevant empfinden, wobei dann eine Rückkopplung an unsere eigenen Erfahrungen stattfindet. Wir haben das Gefühl, dass dadurch eine persönliche Auseinandersetzung des Publikums ermöglicht wird. Im besten Fall werden die Themen dadurch „more relateable“ und es wird griffiger, worum es geht. Wir haben von Anfang an so gearbeitet und auch Miss Oat arbeitet sehr stark über die eigene Autobiografie und Anekdoten aus ihrem Leben. Wir haben das auch nicht erfunden, sondern ich würde sogar sagen, dass das ein Mittel ist, das es seit jeher in der feministischen Kunst gibt – das Private ist politisch. Anders als bei „Flames to Dust“ kommt bei „Afterlives“ jedoch eine zweite Perspektive und damit auch ein zweiter Erfahrungshorizont dazu. Das finde ich toll.

Wie kam es, dass ihr euch bei „Afterlives“ auch mit parallelen Realitäten beschäftigt habt?

Es gibt diesen Satz von Mark Fisher: „Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.“ Ich deute das auch dahingehend, dass es, angesichts des Rechtsrucks, gerade ziemlich schwer ist, sich überhaupt noch alternative Arten des Zusammenlebens vorzustellen. Das ist aber wiederum problematisch, weil wir diese Denk- und Fantasieräume brauchen, um Pläne zu schmieden. Wobei man sagen muss, dass die rechte Bewegung sehr gut darin ist, Zukunftsvisionen zu entwerfen. Das ist etwas, das wir uns als Linke auf jeden Fall wieder zurückerobern müssen. Und als queere Personen müssen wir Räume schaffen, in denen wir unsere eigenen Ideen entwerfen und weiterentwickeln können. Mit dem Ziel, nicht noch stärker begrenzt zu werden von der Gesellschaft, in der wir leben, die uns ja ohnehin schon begrenzt.

Wenn es darum geht, Denk- und Fantasieräume zu schaffen, ist das Theater ein sehr guter Ort dafür.

Marielle Schavan

Welche Rolle kann das Theater in diesem Prozess spielen?

Wenn es darum geht, solche Denk- und Fantasieräume zu schaffen, ist das Theater ein sehr guter Ort dafür. Weil im Theater alles möglich ist – man kann alles sein oder behaupten, alles zu sein. Und das möchten wir weiterhin nutzen und uns das nicht wegnehmen lassen. Weil ich glaube, dass wir das gerade bitter nötig haben.

Geht es in eurer Arbeit also auch darum, eine gemeinsame Utopie zu entwerfen?

Ja, jedoch ohne sich dabei auf eine Vision festlegen zu müssen. Und auch nicht auf ein bestimmtes Afterlife oder eine spezifische Parallelrealität. Es geht vielmehr darum, sich verschiedene Formen des Zusammenlebens vorzustellen und die auch erstmal nebeneinander stehenzulassen. Und zu schauen: Wohin bringt uns das? Und wie können wir die Dinge, die dadurch in uns ausgelöst werden, für die Realität, in der wir gerade zusammen drinstecken, nutzen? Es ist also nicht unser Ziel, ein gemeinsames Manifest zu erarbeiten. Vielleicht könnte man es eher als Trainingsraum für verschiedene Fantasien bezeichnen.

Welche Rolle spielt Humor in der Arbeit?

Eine sehr große. Das ist jedoch nicht erst jetzt so, sondern etwas, das uns von Anfang an in unserer Arbeit wichtig war. Wir sehen Humor auch als selbstermächtigendes Mittel. Außerdem hat Humor für mich auch etwas sehr Widerständiges, weil eine humorvolle Herangehensweise häufig nicht den gesellschaftlichen Erwartungen entspricht. Ich bin auch davon überzeugt, dass eine Arbeit unterhaltsam und dennoch extrem tiefgreifend sein kann.

Kannst du schon verraten, was ihr mit Henrike Iglesias als nächstes vorhabt?

Im Herbst machen wir eine Arbeit, die sich unter anderem mit dem Johnny-Depp-Amber-Heard-Prozess auseinandersetzen wird – wie auch mit anderen Fällen von genderspezifischer Gewalt und der Art und Weise, wie diese in den sozialen Netzwerken verhandelt wird. Wir möchten uns in diesem Zusammenhang auch damit beschäftigen, wie es uns gelingen könnte, im Theaterraum einen Ort zu schaffen, wo wir gemeinsam darüber reflektieren können. Wie finden wir eine Sprache für das, was da gerade stattfindet? Und wie können wir uns eine Form von Handlungsspielraum zurückerobern, die über das pure Doomscrollen hinausgeht? Sofern alles so klappt, wie wir uns das vorstellen, planen wir außerdem einen Audiowalk, in dem wir uns mit dem Thema Vertrauen auseinandersetzen möchten. Auch in Hinblick darauf, dass wir in Zukunft mehr Vertrauen ineinander brauchen werden, um den ganzen Herausforderungen gerecht zu werden, die uns jetzt bevorstehen, ­um dem Rechtsdruck entgegenzuwirken. Was braucht es, um kleine Momente von Verbindung herzustellen? Und was brauche ich, um jemandem Fremden zu vertrauen? Ab 29. April wird es außerdem eine Arbeit mit Jugendlichen im Theater an der Parkaue in Berlin geben, die „Newsroom“ heißt und sich – wie der Titel vielleicht schon verrät – mit Medien, Fake News und Meinungen beschäftigen wird. Die Spieler*innen werden live auf der Bühne einen Newsroom kreieren und Nachrichten generieren. Und das Publikum kann mitentscheiden, was in die Live-Nachrichtenshow eingebunden wird.

Zu den Spielterminen von „Afterlives“ im brut!