Seine schwarze Lederjacke wiegt zwanzig Kilo. Vielleicht auch mehr. „Hier habe ich mein ganzes Werkzeug drinnen“, erklärt Florian Boesch das enorme Gewicht des Kleidungsstücks, das man während des Fotoshootings „nur kurz halten“ sollte. Und zieht zum Beweis einen Schraubenschlüssel aus der Tasche. „Ich fahre ein Motorrad Baujahr 1968, da ist schnell einmal etwas kaputt.“ Der gefeierte Bassbariton mit Lebensmittelpunkt Wien ist passionierter Biker und, der Not gehorchend, manchmal auch Mechaniker. Als sich unsere Wege Ende der 1990er-Jahre das erste Mal kreuzten, kümmerte er sich beim Life Ball um die Bühnentechnik. Dass er Gesang studierte, wusste damals niemand.

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„In der Veranstaltungsbranche habe ich mir mein Studium verdient“, erzählt er viele Jahre später. Gesang sei sein vierter Bildungs- weg. Als Kind und Teenager spielte er intensiv Cello – „ich habe aber relativ bald gemerkt, dass das kein Instrument ist, das meinem jugendlichen Ausdrucksdrang entsprach. Danach habe ich die Musik, obwohl sie mich beschäftigt und berührt hat, ad acta gelegt.“ Er wandte sich der bildenden Kunst zu und studierte vier Jahre lang an der Angewandten. „Zum Singen bin ich wirklich zufällig gekommen.“ Vielleicht ist das Talent genetisch bedingt, wiewohl er selbst dem nicht zustimmen mag. Aber immerhin ist sein Vater, Bariton Christian Boesch, allen Frühgeborenen als Papageno ein Begriff, seine Großmutter war Kammersängerin Ruthilde Boesch. Bei ihr nahm er seine ersten Gesangsstunden. „Absichtslos“, wie er betont, „weil ich die Kategorie des Musikerseins nicht mehr am Radar hatte.“ Damals war er 22 Jahre alt.

Zur Person: Florian Boesch

Der Wiener Bassbariton zählt zu den bedeutendsten Liedinterpreten seiner Zeit und trat unter Dirigenten wie Nikolaus Harnoncourt, Valery Gergiev oder Simon Rattle auf. Er sang u.a. am Bolschoi Theater Moskau, in der Staatsoper Hamburg, bei den Salzburger Festspielen, im Wiener Musikverein, in der Wigmore Hall London und der New Yorker Carnegie Hall und ist immer wieder im Theater an der Wien zu Gast, wo er als Artist in Residence bereits ein breites Spektrum seines Könnens zeigen konnte. Ende Jänner wird er hier Franz Schuberts Liederzyklus „Winterreise“ in einer szenischen Fassung präsentieren. Florian Boesch ist seit 2015 auch Professor für Lied und Oratorium an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien.

„Der eigentliche Weg in die Musik ging über den Text. Ich habe schon als Jugendlicher Goethe- und Schiller- Balladen mit großer Verehrung gelesen, meine erste Begegnung damit war eine Schallplatte von Oskar Werner, die mir mein Großvater geschenkt hat. Irgendwann bin ich draufgekommen, dass es diese Verse auch vertont gibt. Nikolaus Harnoncourt nannte es ‚das klingende Wort‘. Und das klingende Wort ist meiner Ansicht nach die machtvollste Intervention in unser Gefühlssystem.“

Florian Boesch entschied sich nach längerem Abwägen für die Musik, entsagte der Angewandten und immatrikulierte an der damaligen Musikhochschule.

„Mit fast dreißig habe ich in diesem Beruf begonnen und das Singen zum Zentrum meiner Arbeit gemacht. Ich habe mir zwei Jahre gegeben, um zu schauen, ob es funktioniert, und es hat erstaunlich gut funktioniert. Ich habe keine steile Blitzkarriere gemacht, aber das wollte ich auch nie. Das hätte von dem, was mich interessiert, auch gar nicht ins Konzept gepasst.“ Seine Leidenschaft gilt kaum großen Opernpartien, sondern dem Lied. Und als Liedinterpret ist der mittlerweile Fünfzigjährige auch zum international gefragten Sänger geworden.

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Radikale Gegenwärtigkeit

Die Frage, warum ihm gerade diese Form so sehr liegt, erfordert eine längere Antwort. „Dazu muss man mein Liedsingen in der Beschränkung, die ich mir selber auferlege, anschauen. Ich singe nur auf Deutsch. Ich singe kein französisches, englisches oder italienisches Liederrepertoire. Der Zustand, den ich im Singen erreichen will, ist der noch beherrschbare Kontrollverlust. Ich möchte wissen, was es mir in dem Moment, in dem ich singe, bedeutet, was es für mich heißt. Diese radikale Spontanität zur Gegenwart, zum Moment, habe ich nur in meiner Muttersprache.

Florian Boesch: Wanderer zwischen den Welten
Am Karlsplatz blühen die Gräser. Florian Boesch stellt sich geduldig in die Botanik, weil der Fotograf es so vorschlug. Allüren sind dem Sänger fremd, in seiner Kunst geht er allerdings keine Kompromisse ein.

Foto: David Payr

Bekenntnis zum Moment ist ein wahn- sinniges Privileg der performativen Kunst. Ich behaupte nicht, dass die Wahrhaftig- keit länger dauert, als mein Ton klingt. Die radikale Gegenwärtigkeit.“

Hier möchte man das erste Mal spontan applaudieren. Passionierter und präziser formuliert ist eine Definition kaum vorstellbar. „Würde ich bei einem Stück, das mir etwas bedeutet, auf die Bühne gehen und hätte kein Gefühl dafür, müsste also auf meine Routine zurückgreifen, wäre das für mich das Ende. Dann würde ich aufhören.“

Musikalische Traumabewältigung

Am 29. Jänner steht Florian Boesch, gemeinsam mit seinem langjährigen Begleiter am Klavier, Malcolm Martineau, auf der Bühne des Theaters an der Wien, um Franz Schuberts „Winterreise“ in einer szenischen Fassung zu Gehör zu bringen. 24 Lieder nach Gedichten von Wilhelm Müller. Ein Zyklus, bei dem ein Wanderer nach missglückter Liebe in düsterer Stimmung seines Weges geht.

Für Florian Boesch „ganz bestimmt eines der großen Meisterwerke des Genres deutsches romantisches Lied. Für mich ist Wilhelm Müller ein Vor- Freudianer. Ein differenzierter präziser Versteher der conditio humana in ihrer psychologischen Form. Er nimmt Psychosen und Neurosen vorweg, ehe sie überhaupt einen Namen hatten.“ Und dazu Franz Schubert. „Ich glaube, dass wir davon ausgehen müssen, dass er ein Genie war. Eine seiner genialen Möglichkeiten war es, einen Text zu lesen und sofort profund zu verstehen. In der ‚Winterreise‘ ist er ein spannender Interpret des Textes. Ich habe sie bestimmt 50 Mal gesungen und bin noch jedes Mal an Orte gekommen, wo ich noch nie war.“

Mein Beruf ist es, professioneller Bekenner zu sein.Ich bekenne in meinem Singen meine Menschlichkeit. ́

Florian Boesch, Sänger

„Winterreise“ sei ein Werk zum Thema Traumabewältigung. „Für mich ist der Aspekt der Reise im narrativen Sinne nicht interessant, denn die Schneelandschaft ist die Seele, die Spiritualität.“

Franz Schubert vertonte Wilhelm Müllers Gedichte in dessen Sterbejahr, ein Jahr vor seinem eigenen frühen Syphilis-Tod. Die persönlichen Abgründe, das subjektive Erleben bilden wohl bei beiden die Substanz des Werkes.

„Ich kann auch nichts erzählen, was ich nicht aus mir nehme. Irgendetwas sollte man schon erlebt haben, auch wenn man nicht schwer traumatisiert sein muss, um den Zustand imaginieren zu können. Das Singen ist für mich eine Identifikationsdisziplin. Mein Beruf ist es, professioneller Bekenner zu sein. Ich bekenne in meinem Singen meine Menschlichkeit.“

Grönemeyer & Gardot

Florian Boeschs Leidenschaft offenbart sich auch in seinem privaten Hörverhalten. „In den letzten Jahren habe ich die Bach- und die Debussy-Rameau- Platten von Víkingur Ólafsson oft gehört. Eine totale Neuentdeckung für mich.“

Ansonsten fasziniert ihn vor allem „die menschliche Stimme in einem inhaltlich ehrlichen Bekenntnis. Nina Simone. Herbert Grönemeyer; er begleitet mich seit Teenagertagen, Grönemeyer ist ein großer Dichter. Und Melody Gardot. ‚I don’t remember when I was young. I don’t recall the day when I first saw the sun. But what I am certain, what is enough, is just to remember that once, once I was loved.‘ Das ist die Beziehung zu meinen Kindern. Das fährt mir in die Seele.“

Zu den Spielterminen von „Winterreise“ im Theater an der Wien