Seit der Eröffnung des neuen Burgtheaters im Jahr 1888 wird der Zuschauerraum über eine für die damalige Zeit revolutionäre Luftbrunnenanlage mit Frischluft versorgt. Ihre Funktionsweise ist rasch erklärt: Über einen unterirdischen Gang und einige Bodenauslässe wird die zuvor im nahegelegenen Volksgarten an­gesaugte Luft in den Zuschauer­raum gepustet. Passend dazu thront am höchsten Punkt des Gebäudes der sogenannte Blasengel – eine historische Windfahne, die das obere Ende der Luftröhre markiert. 

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Genau dort, wo die altehrwürdigen Gemäuer des Burgtheaters ständig mit viel frischem Wind versorgt werden, treffen wir uns mit Dörte Lyssewski zum ersten Teil des Covershootings. Das passt auch deshalb ziemlich gut, weil die in Niedersachsen geborene Schauspielerin zwar seit mittlerweile 34 Jahren beinahe pausenlos Theaterluft atmet, die Nase aber längst noch nicht voll davon hat. Dass das auch auf ihr – für ihren Beruf nicht unwesentliches – Lungenvolumen zutrifft, davon zeugt unter anderem ihr herzliches Lachen, das sie auch während des Fototermins immer wieder abfeuert. 

Lieber über- als unterfordert

Direkt nach dem Schauspielstudium, im Jahr 1989, wurde Lyssewski an Peter Steins legendäre Berliner Schaubühne engagiert, wo sie auch erstmals auf ihren langjährigen künstlerischen Wegbegleiter Luc Bondy traf. „Die Ernsthaftigkeit und Genauigkeit, mit der dort gearbeitet wurde, zieht sich seitdem durch mein Leben“, erzählt sie im Interview. 

Nach ihrem Erstengagement spielte sie unter anderem als festes Ensemblemitglied am Schauspielhaus Bochum wie auch als freie Schauspielerin am Schauspielhaus Zürich, am Berliner Ensemble, am Deutschen Theater Berlin, am Théâtre de l’Odéon in Paris und an der Volksbühne Berlin. Für ihre Bochumer Zusammenarbeit mit dem Regisseur Ernst Stötzner wurde sie mit dem Gertrud-­Eysoldt-Ring ausge­zeichnet. Mit all diesen prägenden Erfahrungen im Gepäck wechselte sie in der Spielzeit 2009/10 ins Ensemble des Wiener Burgtheaters, wo sie seither sowohl in klassischen als auch zeitgenössischen Stücken zu sehen ist.

Am Ende geht es immer darum, so zu spielen, als sei es das erste Mal.

Dörte Lyssewski
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Den Rucksack, in dem sich ihr gesamter Erfahrungsschatz befindet, gibt es zwar, darauf ausruhen möchte sich die Schauspielerin mit der prägnanten Stimme jedoch nicht. Ganz im Gegenteil. Im Laufe des Gesprächs wird schnell klar, dass Routine und Langeweile nicht unbedingt zu ihren Lieblingszuständen gehören. Obwohl es, wie sie anmerkt, auch eine gute Form der Routine gibt, die einem dabei hilft, schneller zu Lösungen zu kommen und frei zu werden. Geht es nach Dörte Lyssewski, schwebt über alldem dennoch folgende einfache Formel: „Als Schauspielerin ist man mit Probenbeginn immer ein unbeschriebenes Blatt.“ Unterfordern möchte sie weder sich selbst noch das Publikum. 

Zwischen Eros und Thanatos

Eine Produktion, bei der sich diese Gefahr nicht einmal für den Bruchteil einer Sekunde materialisierte, ist Matthias Ripperts Inszenierung des Thomas-Bernhard-Stücks „Am Ziel“. In der Rolle der monologisierenden Hauptfigur stemmt Lyssewski die bernhardschen Wort­kaskaden fast im Alleingang. Obwohl ihr sowohl das Textlernen als auch die Probenarbeit großen Spaß bereitet haben, sei die Arbeit dennoch ein unglaublicher Kraftakt, sagt sie. „Es ist ein Abend, der mich beim Spielen jedes Mal so aufreibt, dass ich mir denke: Mehr geht jetzt auch nicht. Aber er tut das auf eine schöne Weise.“ Nach einer kurzen Pause setzt sie lachend nach: „Nach der Vorstellung bin ich wirklich nur noch eine weiche Hülle. Ich würde jeden Vertrag unterschreiben und jeden Staubsauger kaufen. Aber wie es in ‚Am Ziel‘ so schön heißt: ‚Es ist noch kein Schauspieler an seiner Rolle gestorben.‘“

All diese Dinge seien Erfahrungen zwischen Eros und Thanatos, zwischen Lust und Schmerz, fügt sie hinzu. Aber genau das sei auch das Großartige am Theater, so Lyssewski, die auf der Bühne niemals mit sich geizen möchte. 

Das Gefühl, in irgendeiner Weise „am Ziel“ zu sein, hat sie – so viel ist nach nur wenigen Interviewminuten klar – auch nach dieser besonderen Produktion nicht. Dafür gibt es noch viel zu viel zu ent­decken und auch noch viel zu viele Rollen auf ihrem Wunschzettel. Welche das sind, möchte die Schauspielerin mit den durchdringenden blauen Augen jedoch nicht verraten. „Ich bin da ein bisschen abergläubisch“, merkt sie lachend an.

Dörte Lyssewski
Dörte Lyssewski wurde 1966 in Niedersachsen geboren und 1989 von Peter Stein an die Berliner Schaubühne engagiert. Nach einem Engagement am Schauspiel ­Bochum und einigen Jahren als freie Schauspielerin wechselte sie 2009 ins En­sem­ble des Wiener Burgtheaters. Sie ist ­zweifache NESTROY-­Gewinnerin und ­Trägerin des Gertrud-Eysoldt-Rings.

Foto: Lukas Gansterer

Herumgeisternde Rollen

Ob all die Rollen, die sie sich im Laufe ihrer Theaterkarriere übergestülpt und anschließend wieder ausgezogen hat, immer noch irgendwo in ihr herumgeistern? „Das würde ich nicht sagen“, antwortet die Schauspielerin mit der für sie typischen Klarheit. „Bis auf ein paar Ausnahmen würde ich sie eher als alte Freunde bezeichnen. Wie präsent sie sind, hängt auch davon ab, womit ich mich gerade beschäftige. Wenn ich aus irgendeinem Grund an Luc denke, fallen mir Rollen wieder ein, die ich bei ihm gespielt habe. Auch als Peter (Anm.: Peter Simonischek) gestorben ist, habe ich zu Hause begonnen, alte Fotos rauszusuchen. Manchmal schleichen sie sich auch in aktuelle Rollen hinein und schwirren ein bisschen mit, weil ich mich auf gar keinen Fall wiederholen möchte.“ 

Ab 5. September ist Dörte ­Lyssewski in Rainer Werner Fassbinders „Die bitte­ren Tränen der Petra von Kant“ zu sehen. Lilja Rupprecht inszeniert das vor allem als Film berühmt gewordene Kammerspiel, Lyssewski verkörpert die titel­gebende Hauptrolle. 

Ein Selbstentwurf

Für Lilja Rupprecht, die im Akademietheater zuletzt „Am Ende Licht“ von Simon Stephens inszenierte, ist es ein Stück, in dem es in vielerlei Hinsicht um Mode geht. „Um Mode am Körper, den Modeentwurf, den Schnitt, das Spiel mit Silhouetten, das Spiel mit Geschlecht und mit Klischees. Es dreht sich auch um die Frage, wer welchen Posten bekleidet und welche Konstellationen und Beziehungen sich daraus ergeben.“ Petra von Kant betrachtet die 1984 in Hamburg geborene Regisseurin als exemplarische Figur des Selbstentwurfs.

Dörte Lyssewski
Dörte Lyssewski im Wiener Burgtheater.

Foto: Lukas Gansterer

Sie ergänzt: „Sie schneidert sich sozusagen ihre Welt, an der sie letztlich zugrunde geht, selbst zurecht. Die Explosion ihrer Möglichkeiten – als Unternehmerin, als Lie­bende – führt bei ihr zu einer paradoxen Verarmung der Persönlichkeit, sodass sie letztendlich zu überhaupt keiner Bewegung mehr imstande ist. Es kostet sie enorme Energien, sich über einen langen Zeitraum hinweg als autonomes und zielstrebiges Subjekt zu inszenieren – so wie vermutlich alle Menschen in modernen Gesellschaften.“ Wie für Fassbinder typisch, konsumieren sich die Figuren des Stücks gegenseitig und finden ihr Ende, wenn ihr Gegenüber verbraucht ist, schließt Rupprecht ihre Ausführungen ab. „Die Liebe erscheint so als Handel, als ein Tauschgeschäft – und die gegenseitige Zuneigung als Währung.“

Absolute Durchdringung

„Als das Stück beginnt, ist Petra von Kant aufgrund ihrer beiden gescheiterten, aber auch sehr intensiven Lieben bereits eine Gezeichnete. Sie hat allerdings einen Weg gefunden, damit umzugehen. Durch die Begegnung mit Karin wird sie jedoch wieder porös, beginnt ihr Herz erneut zu öffnen. Wobei nie ganz klar wird, ob es Liebe ist oder der Wunsch, diesen Menschen zu besitzen. Auf jeden Fall ist sie von ihrer Jugend fasziniert“, beschreibt Dörte Lyssewski die Figur.

Nach kurzen anfänglichen Zweifeln, ob sie nicht zu alt für die Rolle sei, überwog die Freude, sie spielen zu dürfen. „Das Großartige an Fassbinder ist unter anderem, dass er über nichts spricht, was er nicht selbst durchdrungen hat, auch wenn er es vielleicht nicht selbst erlebt hat. In der vermeintlichen Einfachheit der Sprache stecken eine große Sinnlichkeit und auch eine fesselnde Künstlichkeit“, bringt die Schauspielerin ihre Fassbinder-­Faszination auf den Punkt. Und auch eine Ehrlichkeit und Purheit, wie man sie heute nur noch selten findet, ergänzt sie. „Wer traut sich heute noch, geradeheraus zu sagen, dass einem das Herz wehtut?“

Dörte Lyssewski
Im Hier und Jetzt. Egal ob auf der Bühne oder vor der Linse von Lukas Gansterer: Dörte Lyssewski geht es stets um Präsenz und die Schönheit des Moments.

Foto: Lukas Gansterer

Immer nie am Ziel

Es ist das erste Mal, dass die Schauspielerin auf solch intensive Weise in diese Sprache eintaucht. Überhaupt sei ihr Beruf eine ständige Abfolge von ersten Malen, sagt sie. Man müsse sie nur auch als solche erkennen. Oder, um wieder aufs Dach des Burgtheaters, zum oberen Ende der Theater-Luftröhre, zurückzukehren: Man kann sich entweder so fühlen, als sei man ganz oben, „am Ziel“ angekommen, oder man nützt die Chance, um möglichst viel von dem zu erfassen, was sich am Horizont noch so verbirgt. So wie wir Dörte Lyssewski kennengelernt haben, nimmt sie vermutlich Letzteres für sich in Anspruch. In jedem Fall gilt: Wann auch immer frischer Wind ins Theater gepustet wird, ist Dörte Lyssewski zur Stelle, um tief Luft zu holen. Und danach vielleicht ihr lautes, charismatisches Lachen abzufeuern.