Marie Schleef ist eine Regisseurin, die nicht nur sucht, sondern so lange gräbt, bis sie auf etwas stößt, das sie wirklich nicht mehr loslässt. Manchmal dauert das ein bisschen, denn die in Göttingen geborene Theatermacherin interessiert sich vor allem für Verdrängtes, Vergessenes und Unsichtbares. Oder auch: für Vergrabenes. Hat sie einen Text gefunden, stürzt sie sich mit Haut und Haar in die Welt, die er eröffnet. „Ich bin eher der Typ Wühlmaus“, hält sie lachend fest und setzt mit ruhiger Stimme nach: „Das bedeutet, dass ich meine Zeit lieber in das Suchen als in das Umdeuten eines Stoffs investiere. Mir macht das einfach mehr Spaß, was jedoch nicht bedeutet, dass das Umdeuten von klassischen Texten keine genauso wichtige Arbeit ist.“

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Auf Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“ stieß sie eher zufällig. „Ich war zu diesem Zeitpunkt auf der Suche nach einem Text, in dem eine Frau einen Verwandlungsprozess durchläuft“, erinnert sie sich. Als sie den Roman schließlich zur Hand nahm, zog er sie augenblicklich in seinen Bann. „Das war wie ein Rausch. Ich konnte ihn gar nicht mehr weglegen. Ich wusste auch sehr schnell, dass ich diesen Text gerne inszenieren würde, auch wenn ich zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung hatte, wie das funktionieren könnte.“

Rund zwei Jahre dauerte es, bis sie die Rechte für „Die Vegetarierin“ bekam. „Plötzlich kam die Zusage der Autorin, und kurz darauf gewann sie den Nobelpreis für Literatur. Ich habe zu dieser Zeit in Köln inszeniert und mich unheimlich für sie gefreut. Außerdem war es auch schön zu sehen, dass ich anscheinend den richtigen Riecher hatte“, so Schleef, der man die Freude an dem Projekt bei jedem einzelnen Satz anmerkt.

Die Vegetarierin Marie Schleef
Marie Schleef wurde 1990 in ­Göttingen geboren. Sie studierte Theater und Performance in New York und Schau­spielregie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin. Sie inszenierte u. a. am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspiel Köln und an den Münchner Kammerspielen. Ihre Inszenierung „Name her. Eine Suche nach den Frauen+“ wurde 2021 zum ­Berliner Theater­treffen eingeladen.

Foto: Hendrik Lietmann

Leise, aber nicht passiv

In Köln lernte Marie Schleef auch die Schauspielerin Kotti Yun kennen, mit der sie bei dieser deutschsprachigen Erstaufführung nun wieder zusammenarbeitet. „Beim ersten Lesen des Romans habe ich mich gefühlt, als hätte mich jemand in eine Plastiktüte gesteckt. Es war ein beklemmender Zustand, der auch daher rührte, dass ich zwischen zehn und dreiundzwanzig in Seoul gelebt habe und plötzlich viele Erinnerungen und Traumata wieder hochkamen“, erzählt die in Deutschland und Südkorea aufgewachsene Schauspielerin.

Doch worum geht es in Han Kangs Bestseller eigentlich? Der Inhalt, in aller Kürze zusammengefasst: Nach einem verstörenden Traum beschließt Yong-Hye, die als sehr durchschnittliches Mitglied der südkoreanischen Gesellschaft beschrieben wird, kein Fleisch mehr zu essen. Dass ihr Vorgehen von ihrem Umfeld als höchst irritierend eingestuft wird, hält sie nicht davon ab, ihren Widerstand auszuweiten. Yong-Hye möchte nicht mehr zu einer derart gewaltvollen Spezies wie den Menschen gehören, sie träumt von einem Leben als Pflanze. Ihre leise, aber keinesfalls passive Revolte ist auch ein Auflehnen gegen das patriarchale, auf Uniformität getrimmte System, in dem sie lebt.

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„Das Schöne an der Figur ist unter anderem, dass sie nicht greifbar und total widersprüchlich ist. Es wird nicht wirklich klar, wofür sie steht“, hält Marie Schleef fest. Kotti Yun nickt und ergänzt: „Ich glaube, dass es einerseits eine Form von Widerstand ist, sie sich aber auch gegen all diese Konventionen auflehnt – weil sie gar nicht anders kann. Sie würde gerne funktionieren, aber es geht einfach nicht. Mein Eindruck ist außerdem, dass sie aktiv nach einer anderen Lebensform sucht, weil sie es nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren kann, Teil dieser gewaltsamen Spezies zu sein.“

Ich investiere meine Zeit lieber in das Suchen als in das Umdeuten eines Stoffs.

Marie Schleef, Regisseurin

Luft für Bilder

Yong-Hyes Ausstieg aus dem System geht alles andere als laut und polternd vonstatten. Im Gegenteil – es ist eine leise, fast stille Revolte. Kaum hörbar, deshalb unerhört, jedoch alles andere als passiv. Das Leise war vermutlich noch nie so laut und durchdringend wie in Han Kangs Roman „Die Vegetarierin“. „Das passt perfekt zu meinem Regiestil“, sagt Marie Schleef, die zuletzt mit „Er putzt“ eine stille Inszenierung realisierte. „Bei der ‚Vegetarierin‘ haben wir uns dazu entschieden, dass gesprochen wird. Die Fassung hat 35 Seiten“, sagt die Regisseurin und fügt hinzu: „Wir wollen diesen Text vor allem auf sehr sinnliche Weise über Bilder erzählen, und dafür brauchen wir Luft. Die große Herausforderung ist gerade, wie man Entschleunigung mit dem gesprochenen Wort kombiniert. Ich bin aber sicher, dass das mit diesem tollen Ensemble wunderbar klappen wird.“

Von den Spieler*innen wünsche sie sich vor allem Lust und absolutes Vertrauen. „Wenn es beispielsweise darum geht, auf der Bühne zu stehen und einfach nur leise zu atmen, dann müssen die Spieler*innen darin vertrauen, dass das als Bild trägt. Das verlangt auch Stärke, weil man als Spieler*in diesen Momenten schnell das Gefühl haben kann, dass man ja gar nichts tut.“

Das sei eine Sache, die sie an der Zusammenarbeit mit Marie Schleef sehr schätze, merkt Kotti Yun an. „Marie hat immer einen Masterplan. Ich komme in die Proben und weiß, was die Vision ist. Dann kann ich offen und angstfrei mit ihr darüber sprechen und in diesem Gerüst spielen. Bei mir war es bisher immer so, dass dadurch Dinge aus mir herausgekommen sind, von denen ich gar nicht wusste, dass sie in mir schlummern.“

Eine starke Form zu haben, bedeute nämlich nicht, die Spieler*innen in eine Form zu zwingen, wirft die Regisseurin daraufhin ein. „Vielmehr geht es darum, seine Aufgaben darin zu finden und Spaß zu haben. Mittlerweile ist es auch so, dass ich mich nicht mehr für meine Art, Theater zu machen, rechtfertigen muss, sondern Spieler*innen auf mich zukommen, weil sie genau darauf Lust haben.“

Die Vegetarierin Burgtheater
Kotti Yun wuchs bilingual in Berlin, Bremen und Seoul auf. Sie studierte Regie, Schauspiel und Puppenspiel in Seoul und Berlin und arbeitet als freie Schauspielerin. Engagements führten sie u. a. nach Köln und Berlin, außerdem ist sie in zahlreichen Film- und TV-Produk­tionen zu sehen.

Foto: Tommy Hetzel

Sinnlicher Widerstand

In der sinnlichen Bilderwelt, die Marie Schleef und ihr Team im Akademietheater entstehen lassen, spielen auch die bewegten Bilder der Videokünstlerin Lillian Canright eine wichtige Rolle. Auf collageartige Weise hält sie die Träume Yong-Hyes in Videosequenzen fest. „Über ein Jahr lang war sie dafür in der ganzen Welt unterwegs“, zeigt sich Schleef von der Arbeit ihrer Kollegin begeistert. Für ihren Regieansatz sei es zudem unabdingbar, dass alle Kunstformen gleichberechtigt ineinandergreifen – Musik, Bühnenbild, Kostüm, Video und Schauspiel.

Bevor sich unsere Wege wieder trennen, möchte Kotti Yun noch eine Sache loswerden: „Wir haben in der Vorberei­tung sehr viel darüber gesprochen, dass Korea aufgrund seiner Geschichte eine sehr uniforme Gesellschaft ist. Beispiels­weise werden in den Schulen die Klassen jedes Jahr neu durchgemischt, damit keine individuellen Freundschaften ent­stehen, sich die Menschen nicht formieren. Das erzeugt eine große Anonymität, die mir damals sehr zugesetzt hat. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich einmal morgens zur Uni gelaufen bin – ungeschminkt und im Jogging­an-zug – und mich die Leute auf der Straße angeschaut haben, als würde ich gleich austicken.“

Die Ausführungen der Schauspielerin machen noch deutlicher, welche Radikalität in der stillen Revolte Yong-Hyes liegt. Auch Marie Schleefs Theater ist eine Form von leiser Rebellion. Seine Widerständigkeit liegt in der Entschleunigung, manchmal auch in der Stille – und immer in einer neuen, ganz eigenen Taktung. Von den Zuschauer*innen erfordert es eine radikal andere Sichtweise. Sie würde ihrem Publikum „genüsslich die Zeit stehlen“ hieß es einmal in einem Artikel über die Regisseurin. Nach diesem Gespräch freuen wir uns auf jeden Fall darauf, in Marie Schleefs Entschleunigungsmaschine einzusteigen.

Zu den Spielterminen von „Die Vegetarierin“ im Akademietheater!