BÜHNE: Mit „Ich bin Carmen und das ist kein Liebeslied“ war bereits ein interdisziplinärer Abend von euch im Volkstheater zu sehen. Inwiefern hat euch diese Arbeit dazu motiviert, in die Welt von Jeanne d’Arc einzutauchen?

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Paul-Georg Dittrich: Wir hatten große Lust darauf, einen weiteren Abend zu machen, bei dem sich Spiel, Text und Musik auf Augenhöhe treffen. Unser gemeinsamer Motor war die Sehnsucht nach einer hybriden Theaterform, fernab des klassischen Spartendenkens. Zugleich sollte der neue Abend wieder verschiedene gesellschafts-politische Dimensionen miteinander vereinen. Schnell kristallisierte sich der Kosmos um die bekannte weibliche Figur Jeanne d’Arc heraus. Kay (Voges, Anm.) war sofort Feuer und Flamme, als wir ihm Johanna von Orleans vorgeschlagen haben, die nicht nur Friedrich Schiller zu seinem berühmten Theaterstück, sondern auch Opernkomponisten wie Tschaikowsky, Rossini und Verdi zu Opernkompositionen inspiriert hat. Auch zeitgenössische Komponisten wie Walter Braunfels und Arthur Honegger haben sich mit ihr auseinandergesetzt. Somit hatten wir ein mannigfaches Spektrum an Perspektiven und einen reichen Fundus an Material.

Hasti Molavian: Das war auch deshalb spannend, weil deutlich wurde, dass all die Künstler, die Georg gerade aufgezählt hat, anders mit dieser historischen Figur umgegangen sind. Schiller hat ihre Geschichte sehr idealisiert, bei Verdi liegt der Fokus vor allem auf einer Liebesgeschichte, wiederum bei Braunfels wird der Leidensweg von Johannes gleichgesetzt mit dem von Jesus Christi.

In eurer Inszenierung „Calls of Duty: Jeanne d’Arc“ widmet ihr euch Frauen, die sich in unterschiedlichen Konflikten, die auf der Welt stattgefunden haben, als Kämpferinnen hervorgetan haben. Warum?

Hasti Molavian: Ich stelle mir oft die Frage, warum ich eigentlich Theater und Musiktheater mache. Wenn ich, gefühlt sehr abgekoppelt von der Welt, spiele und probe, denke ich häufig darüber nach, wie relevant die Dinge, die ich auf der Bühne mache, für die Welt da draußen wirklich sind. Bei „Carmen“ haben wir deshalb diese Verbindung zu meiner Geschichte hergestellt. Bei der jetzigen Arbeit wurde uns immer mehr bewusst, wie viele Frauen auf der Welt es gibt, die diese Johanna-Figur auf unterschiedlichste Art und Weise verkörpern. Darüber hinaus war es uns wichtig, unser Publikum in jene Bereiche der Welt zu führen, die in Mitteleuropa wenig bis gar kein Interesse erfahren. Kurz: Wir haben nach den Johannas unserer Zeit gesucht.

Irem Gökçen

Irem Gökçen: Sich Raum nehmen, um alles zu geben

In ihrer ersten Saison als festes Ensemblemitglied bespielte Irem Gökçen bereits den Zuschauerraum, steckte in einem Teletubby-Kostüm und verhandelte wichtige Fragen zum Thema Identität. Stets mit viel Neugier und einer großen Lust am Ausprobieren. Weiterlesen...

Wo habt ihr sie gefunden?

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Paul-Georg Dittrich: Fündig wurden wir unter anderem in den beiden Tschetschenien-Kriegen. Die sogenannten „schwarzen Witwen“ waren Selbstmordattentäterinnen, die – in der Regel stark beeinflusst von Extremisten und Separatisten – die Morde an ihren Männern rächten. Außerdem haben wir uns mit den kurdischen Widerstandskämpferinnen in Syrien beschäftigt, die den IS in Kobane besiegt hatten. Wie auch mit der 1880 verstorbenen Afghanin Malalai von Maiwand, die aufgrund ihres mutigen Voranschreitens im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg als afghanische Johanna von Orléans bezeichnet wurde.

Hasti Molavian: Es ist ein Stoff, den jede und jeder irgendwie kennt. Man hat einfach eine gewisse Vorstellung davon, wer Jeanne d’Arc war. Deshalb hat es uns interessiert, uns mit Frauen auseinanderzusetzen, die diese Figur verkörpern, einem westlichen Publikum aber weitgehend unbekannt sind. Gerade in den Bereichen Film und Gaming bedient sich die westliche Welt so sehr am mittleren Osten. Mir fällt es beispielsweise total schwer, mir Hollywoodfilme anzusehen, die so tun, als würden sie im Iran oder Irak spielen, die aber in Marokko gedreht wurden. Das ist nicht alles eine Soße, sondern das sind ganz unterschiedliche Kulturen, die viel mehr zu bieten haben als nur Ruinen und Ballerei. Sich einfach zu nehmen, was man gerade braucht, finde ich problematisch. Ja, es gibt dort Krisen und Krieg, viel wichtiger wäre jedoch, sich die Frage zu stellen, warum es die gibt. Und wie viel Anteil man hier im Westen daran hat. Ich halte es für wichtig, die Welt in ihrer Gesamtheit zu betrachten und die Abgrenzung von etwas vermeintlich Anderem nicht als identitätsstiftendes Instrument einzusetzen. Im Sinne von: Da sind wir und da sind die, die im Elend leben. Im Idealfall stellt unser Abend auch diese Sicht von oben herab in Frage.

Was macht den Reiz der Dunkelkammer, der intimsten Spielstätte des Volkstheaters, aus?

Paul-Georg Dittrich: In der Dunkelkammer gibt es kein Entweichen und dadurch eine ganz besondere Qualität von Direktheit. Für uns ist der Raum perfekt, weil wir die drei Welten, die ich vorhin kurz skizziert habe, wie drei Levels eines Computerspiels verstehen, das von einer jungen Frau, einer Streamerin, gespielt wird, die sich in der Komfortzone der westlichen Welt befindet und immer mehr von diesem Spiel eingesogen wird. Für die Zuschauer*innen entsteht der Eindruck, dass sie sich mitten in diesem Spiel befinden. Das Computerspiel, das Hasti stellenweise auch live spielt, wurde von Lukas Rehm für diesen Abend programmiert.

Hasti Molavian: Uns beide reizt es sehr, Stücke zu entwickeln, die sich zwischen allen Schubladen bewegen – zwischen Musiktheater, Schauspiel und Oper. Auch Video spielt bei „Calls of Duty: Jeanne d’Arc“ eine große Rolle.

Paul-Georg Dittrich: Wir glauben daran, dass sich alle künstlerischen Darstellungsformen auf Augenhöhe treffen können.

Calls of Duty Jeanne d'Arc
Als Streamerin spielt sich Hasti Molavian durch drei Jeanne d'Arc-Levels.

Foto: Marcel Urlaub

Was war euch in musikalischer Hinsicht wichtig?

Paul-Georg Dittrich: Der Abend ist auch ein Versuch, sich den anfangs aufgezählten Opern mit unserem gegenwärtigen Instrumentarium zu nähern. Dabei gehen wir auch in die elektronische Musik und in die Populärmusik hinein. Darüber hinaus haben wir uns an der Soundwelt von Computerspielen orientiert. Christopher Scheuer hat nicht nur komponiert, sondern spielt auch live. Wir machen es mit dem musikalischen Material so, wie man es im Schauspiel häufig mit dem Text macht – wir verstehen es als Steinbruch. Das bedeutet, dass wir uns unterschiedliche Motive, Arien und Duette herausgenommen haben und sie in bearbeiteter Form in unser Stück einfließen lassen. Hasti singt nicht nur Johanna-Arien, sondern generiert durch unterschiedliche moderne Techniken, wie etwa Loops und Harmonizer-Effekte, auch Chöre. Wir zitieren Elemente der klassischen Oper, bedienen uns aber auch aus der Klangwelt von Videospielen, die oft etwas Martialisches hat. Das trifft jedoch auf die Oper auch zu. Wer sich gut mit Oper auskennt, hört bestimmt die ein oder andere Arie heraus. Um einen guten Abend zu haben, ist diese Form der Kennerschaft jedoch nicht erforderlich.

Hasti, in unserem letzten Gespräch hast du Folgendes gesagt: „Das Leben ist voller Momente, in denen man weint, schreit, verzweifelt ist. Natürlich gibt es auch schöne Momente, aber zur Darstellung des Lebens gehört auch das Schreckliche. Wenn man schlimme Dinge erlebt, warum sollten diese dann in perfektem Belcanto gesungen sein?“ Begleitet dich dieser Gedanke immer noch?

Hasti Molavian: Daran denke ich fast jeden Tag. Es ist dieser innere Konflikt, bei dem ich mich frage, warum ich eigentlich singe. Wozu mache ich das? Wenn man auf einer Bühne steht und etwas erzählt, bräuchte man dann nicht eigentlich einen triftigen Grund dafür? Im Grunde sollte man die die Welt nicht schönreden, sondern sie so zeigen, wie sie ist. In der Oper hat man aber unglaubliche viele Schranken. Es gibt so viele Dinge, die nicht erlaubt sind – die nicht gehen, weil sie nicht schön sind. Aus diesem Korsett versuchen wir auszubrechen. Ich singe nicht nur, weil es das Medium ist, dass ich gut beherrsche, sondern ich gehe darüber hinaus und schaue, was es mit mir macht. Dann bewegt es nicht nur mich selbst, sondern hoffentlich auch das Publikum. Wenn alles schön gesungen ist, passiert das nicht, sondern es bleibt immer ein Stück weit von einem entfernt. Ich will die Intention sehen – also mitbekommen, woher das kommt. Das ist für mich der Kern dieser Arbeit.

Paul-Georg Dittrich: Ich glaube, das eine existiert nicht ohne das andere. Das Schöne und das Schreckliche bedingen einander. In der Oper hat man häufig hervorragende Solist*innen, die immensen Druck verspüren, die berühmten Arien, die sie singen, perfekt abzuliefern. Ich verstehe, dass sie gut singen müssen, um sich selbst und den Erwartungen gerecht zu werden, finde es aber schade, dass die Frage danach, in welcher emotionalen Situation sich die jeweilige Figur befindet, oft auf der Strecke bleibt. Was ist der Ursprung der noch so schönen vokalen Emotion? Lieber sehe ich jemanden bei einer dramatischen Arie an ihrem oder seinem Gefühl scheitern, als diese musikalische Virtuosität erfüllt zu sehen. Nur dann wird es glaubhaft und bewegend, weil man plötzlich zum menschlichen Kern durchdringt.

Calls of Duty Jeanne d'Arc
In dieser Spielzeit ist „Calls of Duty: Jeanne d'Arc" noch zweimal zu sehen. In der nächsten Saison wird der Abend wiederaufgenommen.

Foto: Marcel Urlaub