Kaum bekannt. Außergewöhnlich schön. So lässt sich Francesco Gasparinis frühe musikalische Auseinandersetzung mit dem „Hamlet“-Mythos knapp zusammen-
fassen. Damit ist „Ambleto“ eine perfekte Herausforderung für das MusikTheater an der Wien, das sich die Wiederentdeckung musikarchäologischer Schätze zur Kernaufgabe gemacht hat. 1706 in Venedig uraufgeführt und eigens für den auch schauspielerisch hochbegabten Kastraten Nicolini komponiert, trat die Oper sechs Jahre später in London ihren Siegeszug an und wurde im 18. Jahrhundert gerne auf die Spielpläne gesetzt, ehe sie von diesen vollständig wieder verschwand.

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„Für mich zählt ‚Hamlet‘ zu den wichtigsten Theaterstoffen unserer westlichen Kultur, und ich habe mich immer gefragt, warum wir dafür keine musikalische Entsprechung haben“, erzählt Countertenor Raffaele Pe. „Bis ich bei meinen Recherchen zu Gasparini, mit dem ich bereits am Anfang meiner Karriere zum ersten Mal konfrontiert wurde, auch auf dieses wenig bekannte Werk gestoßen bin.“ Er findet, um Händel richtig zu verstehen, müsse man Gasparini kennen. Dieser habe noch Jahre vor Händel das „Tamerlano“-Thema vertont und diesen ziemlich sicher erst zu dessen Version inspiriert. „Eine weitere Verbindung der beiden Künstlerpersönlichkeiten findet sich in Gestalt des neapolitanischen Kastraten Nicolò Grimaldi, genannt Nicolini, der in Händels erstem Londoner Meisterwerk ‚Rinaldo‘ 1711 die Titelrolle sang. Und weil das Publikum mehr von ihm hören wollte, schlug Nicolini schließlich ‚Ambleto‘ vor, dessen Uraufführung er bereits 1706 in Venedig gesungen hatte. So kam es, dass schließlich auch diese Gasparini-Oper in London reüssierte.“

Und nicht nur das. Die englischen Zuschauer waren daran gewöhnt, sich das Notenmaterial zu besorgen und zu Hause nachzuspielen, wodurch „Ambleto“ überhaupt erhalten blieb. Doch nicht zur Gänze, sondern lediglich die Arien; von den Rezitativen fehlen die Aufzeichnungen komplett.

„Oper wird auch in Zukunft nicht sterben, wenn wir sie nicht zu einer museumsreifen Institution machen.“

Raffaele Pe

Weibliche Mordlust

Regisseurin Ilaria Lanzino sieht im fragmentarischen Vermächtnis allerdings die Chance für eine eigene, moderne Deutung des Stoffes. „Wir haben eine Sammlung von knapp vierzig Arien, zu denen man einen Zugang finden muss. Das bietet sehr viele Möglichkeiten, nicht nur Hamlets innere Welt, sondern auch jene von Ophelia zu beleuchten. Um die Handlung in Gasparinis vermeintlichem Sinn zu gestalten, hätte man die Rezitative neu komponieren müssen. Das wollten wir aber nicht. Also haben wir uns mehr an Shakespeare orientiert, aber den staatspolitischen Aspekt ausgeblendet. Bei uns geht es um die Geschichte zweier Familien, die sich zum Kriminalfall entwickelt. Im Mittelpunkt steht ein junger Mann, der seinen Vater verliert und danach nicht mehr in der Lage ist, die Welt zu verstehen. Es gibt keine Machtintrige, sondern lediglich die menschliche Konfrontation mit plötzlicher Trauer, wie wir sie alle kennen, die aber Hamlets Welt dermaßen aus den Angeln hebt, dass er beginnt, in seiner Umgebung nur Feinde zu sehen. Ab da entfacht sich eine Spirale der Gewalt, in der auch Ophelias Rolle großes Gewicht bekommt.“

Denn deren Figur sei in der Literaturgeschichte meist eine passive, die sich entweder in den Wahn flüchtet oder auf andere Art inaktiv bleibt. „Als feministische Regisseurin interessiere ich mich aber für Täterinnen und ihre Abgründe viel mehr als für Frauen in passiven Opferrollen“, erklärt Ilaria Lanzino amüsiert. „Bei mir sind auch die Frauen gewaltbereit und abgründig, wenn es dafür nachvollziehbare Gründe gibt. Um ihnen gerecht zu werden, muss man auch ihre dunklen Seiten zeigen. Natürlich wurden wir strukturell dazu gebracht, uns klein und brav zu machen, aber dieses Bild will ich nicht perpetuieren.“

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Das mache sie aber nicht programmatisch, sondern nur dann, wenn sich eine Figur dafür anbiete. Ophelia sei bekanntlich hin- und hergerissen zwischen Hamlet und ihrer Familie, die die Beziehung ablehnt. „Ihr wird am Ende alles weggenommen. Da darf sie gewiss nicht einfach zuschauen und in den Wahn verfallen.“ Die Arien gäben einen hervorragenden Blick in die Seelen von Hamlet und Ophelia frei, sodass es nicht schwer sei, daraus eine Handlung abzuleiten.

Zur Person: Ilaria Lanzino

Geboren in Pisa, studierte sie Sologesang und Germanistik, ehe sie sich der Opernregie ­zuwandte und als Spezialistin für Physical Theatre europaweit Renommee erlangte. Sie wurde u. a. 2020 mit dem Europäischen Opernregie-Preis bedacht und 2023 bei den International Opera Awards ausgezeichnet. Vor drei Jahren inszenierte sie in der Kammeroper sehr erfolgreich Francesca Caccinis „La liberazione“. Neben ihrer Regietätigkeit arbeitet Ilaria Lanzino auch als Librettistin und Dozentin für Szenischen Unterricht. 

Vielfach talentiert

Raffaele Pe betont die Faszination der Musik Gasparinis und seine Qualität der Stimmführung. „Nicolini war aber eher ein Mezzo denn ein Contralto, und sowohl Händel als auch Gasparini haben ihm die Rollen in einer Sopran-Tonart auf den Leib geschrieben. Der Gesang ist also höher und lyrischer, als ich es gewohnt bin“, verweist er auf die stimmlichen Herausforderungen.

Zwei Jahre haben er und Ilaria Lanzino an „Ambleto“ gearbeitet, wobei Raffaele Pe neben der Hauptrolle auch die musikalische Leitung übernimmt. Zudem spielt das von ihm 2015 gegründete Barockorchester La Lira di Orfeo, mit dem er am MusikTheater an der Wien bereits „Rodelinda“ zur Aufführung gebracht hat und das ihm besonders am Herzen liegt.

„Wir unterscheiden uns von anderen Orchestern schon dahingehend, dass wir uns als Kollektiv verstehen. Wir haben keinen Dirigenten, sondern spielen unter der Leitung von Konzertmeisterin Elisa Citterio und achten darauf, dass die Kommunikation unter den Musikerinnen und Musikern horizontal verläuft, nicht vertikal wie meist üblich. Ich betone das deshalb, weil diese Praxis zur Zeit des Barock gängig war. Alle Instrumentalisten sind bei uns auf einem Level und bringen gleichberechtigt ihre Ideen ein. Es ist selbstverständlich, dass wir auch den Text gemeinsam durchgehen, denn die Musikerinnen und Musiker sind schließlich Teil der Inszenierung.“

Zur Person: Raffaele Pe

Geboren in Lodi, studierte er Gesang und ­Orgel. Er verfügt über ein Repertoire, das von Recitar cantando bis hin zu ­zeitgenössischen Opern, die für seine Stimme geschrieben wurden, reicht. Er war der ­erste Countertenor, der je zum Opern­festival Verona eingeladen wurde, arbeitete mit ­Dirigenten und Regisseuren wie Jordi Savall, René Jacobs, Damiano ­Michieletto oder Claus Guth zusammen und ­gründete 2015 das Barockkollektiv La Lira di ­Orfeo. Am MusikTheater an der Wien war ­Raffaele Pe 2024 in Händels „­Rodelinda“ zu erleben. 

Ominöses Dienstagsfieber

Raffaele Pe lobt an dieser Stelle die Herangehensweise von Ilaria Lanzino, die er erst im Rahmen von „Ambleto“ kennenlernen durfte. „Sie hat einen italo-deutschen Charakter, ist also sehr präzise, aber ebenso kreativ und einfallsreich. Und ich denke, das ist heutzutage im Theaterbetrieb eine enorme Qualität, weil die meisten Häuser zwar bestens strukturiert sind, es aber manchmal keinen Raum mehr gibt für Experimente oder die Möglichkeit, einer Geschichte ein neues Narrativ zu verleihen.“ Dass die Regisseurin viel von Musik verstehe, sei ein zusätzliches Geschenk.

„Anderenfalls könnte ich mir aber auch nicht vorstellen, Opernregie zu führen“, antwortet Ilaria Lanzino. „Mein erster Zugang war ein rein musikalischer. Ich habe sehr früh im Kirchenchor zu singen begonnen und wurde bereits mit fünfzehn Jahren an der Musikhochschule angenommen, wo ich Sologesang studiert habe. Zeitgleich ging ich aufs Gymnasium, wo ich des Öfteren ‚krank‘ war. Die Schuldirektorin nannte das ‚Dienstagsfieber‘, denn an jedem Dienstag musste ich aufs Konservatorium. Ich habe dann zugleich maturiert und an der Musikhochschule meinen Master gemacht. Da war ich Anfang zwanzig und stand vor der Frage, ob ich tatsächlich als Sängerin arbeiten wollte.“ Eine Zeit lang trat sie noch auf, unter anderem im Chor des MusikTheaters an der Wien. „Aber ich hatte weder die Persönlichkeit noch das Talent dazu. Ich war immer ein Nerd-Mäuschen. Ohne hohe Töne, ohne tiefe Töne, ohne Farbe, ohne Volumen, aber mit viel Leidenschaft für Solfège, Harmonielehre und Dramaturgie.“

Also begann sie Germanistik zu studieren. „Weil ich eine Fanatikerin der deutschen Sprache bin. Ich liebe ihren Klang, ihre intelligente Struktur und ihre exakten Begriffe. Über Thomas Mann und Heinrich Kleist, die ich verehre, habe ich einen Blick für das größere Ganze bekommen. Also nicht nur Arien zu singen, sondern ganze Welten zu erschließen.“

Weil sie aber auch nicht ohne Musik leben wollte, begann sie als Regiehospitantin an der Deutschen Oper Berlin und an der Deutschen Oper am Rhein zu arbeiten, wenig später assistierte und inszenierte sie auch. „Das ging wahnsinnig schnell, fast so, als hätte mich der Beruf, mit dem ich ein bisschen geflirtet habe, auserwählt.“ Ilaria Lanzino fing an, sich für „Physical Theatre“ zu interessieren, und absolvierte entsprechende Workshops. „Das war meine nächste Liebe, die aber auch aus einer gewissen Musikalität des Körpers entstanden ist. Wie sich jemand im Rhythmus durch den Raum bewegt, ist essenziell.“

Sie hält den Begriff „Gesangsdarsteller“ für den eigentlich richtigen, weil es nicht nur darum gehe, zu singen, sondern eine Figur insgesamt zu gestalten. „Deshalb habe ich auch so gerne als Dozentin für Szenischen Unterricht an der Hochschule für Musik in Würzburg gearbeitet, womit ich aus Zeitgründen aktuell aber leider pausieren muss.“

Am Ende sei ihre Künstlerpersönlichkeit eine Aneinanderreihung von Leidenschaften, die sie aber auch immer in Jobs verwirklichen konnte. Hat sie Schauspiel nie interessiert? „Eigentlich hätte ich schon Lust darauf, ich gehe sogar häufiger ins Theater als in die Oper“, richtet sie einen sanften Appell an die zuständigen Intendanten.

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Persönliche Widmung

Raffaele Pe entstammt zwar einer musikalischen Familie, ist aber der erste Professionist im Stammbaum. „Meine Großmutter hat gerne Opern gehört, meine Mutter hat ständig gesungen, mein Vater war in einem traditionellen Chor, wie es sie auch in den österreichischen Bergen gibt. Sie haben mir als Wert mitgegeben, dass man Musik vor allem ­genießen sollte, dass es nicht um Struktur und Form geht, sondern darum, Freude zu bereiten.“

Er habe schon als Kind im Domchor seiner Heimatstadt gesungen; unter anderem auch Oratorien. „Dabei habe ich zum ersten Mal einen Countertenor gehört, einen Engländer, der gemeinsam mit uns Händels ‚Joshua‘ aufgeführt hat. Ich war völlig fasziniert und dachte, vielleicht könnte das auch für mich ein Weg sein, denn genau zu der Zeit kam ich in den Stimmbruch. Ich war ein sehr guter Sopran, wusste aber nicht, ob ich auch ein annehmbarer Bariton sein würde. Diese Erfahrung eröffnete mir eine neue Landkarte von mir bis dahin unbekannten musikalischen Möglichkeiten.“

Raffaele Pe studierte neben Sologesang auch Orgel und avancierte international rasch zum gefragten Countertenor. Worin liegen für ihn die Vorzüge der Kopfstimmenkunst? „Als ich damit begonnen habe, war es noch nicht so üblich. Heute ist es sehr aktuell und ein Ausdruck jener Modernität, die ich enorm schätze. Ich glaube, dass auch das Publikum an neuen Blickwinkeln interessiert ist. Die Oper ist eine lebendige Kunstform, die überraschen und gegenwärtig sein muss. Es gibt einen Grund dafür, warum sie in mehr als dreihundert Jahren nicht ausgestorben ist, und ich bin sicher, dass sie das auch in Zukunft nicht sein wird, wenn wir sie nicht zur museumsreifen Institution machen.“

Sein Repertoire reicht von Recitar cantando bis hin zu zeitgenössischen Opern, die eigens für seine Stimme geschrieben wurden. Was bedeuten ihm solche persönlichen musikalischen Widmungen, die man sicherlich als besondere Auszeichnung verstehen darf? „Das bezieht sich wohl auf ‚Hémon‘, eine auf Sophokles’ ‚Antigone‘ basierende Oper des französisch-libanesischen Komponisten Zad Moultaka, die vor ein paar Jahren an der Oper in Straßburg uraufgeführt wurde. Er verstand meine Technik so gut, dass er mir vorgeschlagen hat, die Hälfte als Countertenor und die andere Hälfte als Bariton zu singen. Das war natürlich eine Herausforderung, hat mir aber auch eine neue Sichtweise auf meine eigene Stimme eröffnet und uns die Chance gegeben, Oper weiterzuentwickeln. Deshalb bin ich auch sehr glücklich darüber, als nächstes Projekt nach ‚Hamlet‘ mit George Benjamin, der zu den bedeutendsten lebenden Komponisten zählt, an seinem Meisterwerk ‚Written on Skin‘ in Rom zu arbeiten.“

In der Ewigen Stadt könnte er wieder Ilaria Lanzino begegnen, denn sie wird im Sommer beim Caracalla Festival Händels „La Resurrezione“ inszenieren.

Zu den Spielterminen von „Ambleto“ im MusikTheater an der Wien!