Kaum einer hat es gelesen. Doch jeder glaubt, es zu kennen. Das Abenteuer von „Moby Dick“ ist vor allem dank seiner Verfilmung Teil des weltkulturellen Kanons. Denn der 900 Seiten starke Roman mit detailliertesten Beschreibungen unterschiedlicher Harpunen, kapitelweisen Exkursen zur Beschaffenheit von Hanfseilen, komplexen Exzerpten über den Schiffsbau im 19. Jahrhundert und philosophischen Ausflügen in die Bibel ist – so Michael Schachermaier – „eine Qual“.

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Und er muss es wissen, denn kaum jemand hat sich so intensiv mit Herman Melvilles Opus magnum, das sich zu dessen Lebzeiten übrigens nur 3.000-mal verkaufte, beschäftigt wie der in Wien lebende freie Regisseur und Autor.

Feigheit kann man ihm wahrlich nicht vorwerfen, hat er doch auch schon „20.000 Meilen unter dem Meer“, „Die Abenteuer des Odysseus“ oder „Herr der Fliegen“ auf die Bühne gebracht und dabei bewiesen, dass man vor komplexen Stoffen keine Scheu haben muss. Vorausgesetzt, man beherrscht die große Bühnenklaviatur.

Ich finde es komisch, zu sagen, Jugendliche seien das Publikum von morgen. Nein, die sitzen heute im Theater.

Michael Schachermaier

„Junge Menschen sind mit Abenteuergeschichten am ehesten abzuholen“, lautet die simple Erklärung dafür, warum er sich immer wieder an vermeintliche Unlösbarkeiten wagt. „Das hat mich auch zu ‚Moby Dick‘ geführt. Das Buch ist ausufernd, mäandernd, es zu lesen war ein peinigender Prozess. Dann aber sah ich Ismael, den jungen Erzähler im Roman, immer plastischer vor mir und dachte, wenn man seine Geschichte ins Zentrum rückt und ihn zur klaren Identifikationsfigur macht, ist das für jugendliche Zuschauer ein schönes Fenster in die Geschehnisse.“ Denn der melancholische Ismael ist auf der Suche – auch nach seinem Platz in der Gesellschaft – und heuert als Matrose auf dem Walfangschiff „Pequod“ an. Dessen Kapitän Ahab hat indes nicht nur wirtschaftliche Interessen, sondern vor allem Rache an Moby Dick im Sinn, der ihm einst ein Bein abgerissen hat.

Etwa ein halbes Jahr bereitete sich Michael Schachermaier intensiv auf die Dramatisierung des hochkomplexen Stoffes vor, einen Monat dauerte dann der eigentliche Schreibprozess.

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Schwimmende Fabriken

„Es ist interessant, dass Walfänger oft drei, vier Jahre unterwegs waren. In einem Jahr hat man vier bis zehn Pottwale gefangen und diese auch gleich auf dem Schiff verarbeitet. Das muss auf offener See meilenweit fürchterlich gestunken haben. Die kleinsten Matrosen wurden in das Gehirn des Wals gestellt und haben es ausgeschöpft“, schildert Michael Schachermaier drastisch plastisch.

So ein Schiff sei immer eine schöne Verdichtung für Theaterstoffe, weil man buchstäblich nicht auskönne und sich gerade für Jugendliche gut beschreiben ließe, wie eine Gemeinschaft funktioniert, wie Hierarchien entstehen und Dynamiken sich entwickeln.

„Mich hat die Originalgeschichte sehr interessiert. Melville ist selber zur See gefahren, und um 1820 gab es erste Attacken von Pottwalen auf Fangschiffe. Die ‚Essex‘ war das allererste Schiff, das nach einem solchen Angriff gesunken ist. Daraus ist ‚Moby Dick‘ entstanden. Damals hat man sich gefragt, warum diese Angriffe auf Walfänger alle nach einem bestimmten Muster abgelaufen sind: Immer bei Vollmond, und die Wale schlugen bei einem Dreimaster immer an derselben Stelle ein. Das führte zu Spekulationen und Mythenbildungen. Man dachte, die Natur schlage zurück.“

Moby Dick Theater der Jugend
Faible für die Tiefsee. Es ist kein Zufall, dass viele seiner Inszenierungen am, auf oder unter Wasser spielen. Michael Schachermaier ist seit vielen Jahren begeisterter Taucher.

Foto: Christoph Liebentritt

Später ist man draufgekommen, dass ein Dreimaster ungefähr so groß ist wie ein Pottwalbulle – der angreifende Wal witterte also lediglich einen Konkurrenten. Und Vollmond bedeutete Paarungszeit. Zudem wurden unter Deck Harpunen geschmiedet, das Schlagen des Ambosses erinnerte die Wale an Klicklaute unter Wasser. „Es gab also eine Erklärung für dieses Phänomen, und das habe ich auch in meine Dramatisierung einfließen lassen.“

Die Besatzung der „Pequod“ besteht ausschließlich aus Männern, das ist der Historie geschuldet, eine reine Männerdomäne ist „Moby Dick“ dennoch nicht. „Ich inszeniere neben Sprechstücken auch Oper und Musiktheater und habe die Erfahrung gemacht, dass sich die Sparten poetisch schön durchdringen können. Auch bei ‚Moby Dick‘ habe ich nach einem musikalischen Zugang gesucht und bin bei einer tollen jungen Musikerin fündig geworden. Mary Broadcast wird den Stoff als Texterin und Sängerin musikalisch beleuchten, selbst auf der Bühne performen und dem Ganzen eine zeitgenössische weibliche Perspektive geben. Ich finde, das ist ein schönes Gegengewicht zum männerdominierten Kosmos.“

Nun aber zur Schicksalsfrage: Wie bekommt man einen Wal auf die Bühne des Theaters im Zentrum? Regisseur Michael Schachermaier lacht. „In erster Linie möchte ich versuchen, den Wal in die Köpfe der Zuschauer*innen zu bekommen – jenseits vom Naturalismus, der ohnehin nicht möglich ist.“

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Ethische Erkenntnisse

Walfang ist heutzutage in den meisten Weltgegenden zu Recht verpönt. Ein Umstand, der auch auf die Arbeit von Michael Schachermaier Einfluss nimmt.

„Ich habe eine Kooperation mit der Organisation Sea Shepherd Österreich angestrebt, die mir auch Rückmeldungen zu meiner Bühnenfassung gegeben und uns am Anfang der Proben begleitet hat. Deren Leiter hat uns eingeführt: was Walfang heute bedeutet und welche Problematiken damit verbunden sind. Ohne den moralischen Zeigefinger heben zu wollen, hat es mich auch interessiert, die richtigen Fragen für das Publikum zu stellen. Themen wie Klimawandel und Artenschutz sind uns heute sehr nahe, aber auch damals lebte man am Rande einer Ausbeutungszeit, denn die Meere waren völlig überfischt. Diese Aktualität des Gestern im Heute aufzuzeigen ist spannend.“

Zur Person: Michael Schachermaier

Kunst und Katastrophen

Michael Schachermaier wuchs als Sohn eines Arztes und einer Lehrerin in Bad Ischl auf. „Meine Eltern haben mich schon früh zu sehr fordernden Theaterabenden mitgenommen. Etwa zu ‚Titus Andronicus‘ in der Felsenreitschule in Salzburg. Das war für mich ein totaler Overload, hat mir aber auch interessante Einblicke verschafft.“ Wahrscheinlich wurde in dieser prägenden Zeit auch der Grundstein für seine spätere Karriere gelegt, wiewohl er ursprünglich einen ganz anderen Weg einschlagen wollte. „Ich habe mich sehr für Katastrophenmanagement interessiert …“

Zum Theater kam er mit 16 Jahren ganz banal über einen Sommerjob als Regieassistent. Später assistierte er am Burgtheater Kapazundern wie Christoph Schlingensief, Alvis Hermanis und Andrea Breth und wuchs langsam hinein in diesen Beruf, den er, im Gegensatz zu vielen Kolleg*innen, nicht studiert hat.

„Mein Zugang ist ein handwerklicher, ich bin nicht von der Theorie in die Praxis gegangen, sondern umgekehrt.“ Wichtig für einen Regisseur sei nach seinem Verständnis die Neugier. „Man muss Lust haben, auf Menschen zuzugehen. Mir sind Angstfreiheit und eine positive Probenatmosphäre sehr wichtig, die Leute sollen sich trauen, etwas auszuprobieren, und nicht in ihrer Kreativität eingeengt werden. Ich bin froh, wenn gemeinsam eine bessere Fantasie entsteht.“

Genauso zählten aber auch Chefqualitäten zum Berufsbild. „Man muss auch konfliktfähig sein und sich durchsetzen können. Theater ist ja kein betreutes Wohnen, Autorität ist aber immer auch mit inhaltlicher und handwerklicher Kompetenz verbunden.“

Einen Unterschied zwischen Jugend- und Erwachsenentheater gibt es für ihn nicht. „Ich finde es auch komisch, zu sagen, Jugendliche seien das Publikum von morgen. Nein, die sitzen heute im Theater.“

Zu den Spielterminen von „Moby Dick“ im Theater im Zentrum