Wer schon einmal eine solche durchlebt hat, weiß: Wurzelbehandlungen sind unangenehm und können auch Tage später noch ordentlich wehtun. Keine Sorge, natürlich soll es hier um ganz andere Prozesse der Durchdringung gehen als um jene, die üblicherweise in den Behandlungszimmern von Zahnarztpraxen durchgeführt werden. Denn auch die Suche nach den Wurzeln des eigenen Daseins ist möglicherweise mit einem Schmerzgefühl verbunden. Im Gegensatz zur eingangs erwähnten Wurzelbehandlung kann sich diese Form der Tiefenbohrung allerdings auch schön anfühlen. Und in den allermeisten Fällen ist sie vermutlich beides zugleich.

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Mit „Die Wurzel aus Sein“ hat der im Libanon geborene Autor Wajdi Mouawad ein Stück geschrieben, das definitiv beides ist. Auf ebenso schöne wie schmerzvolle Weise dringt es zu den Wurzeln zwischenmenschlicher Beziehungen vor, untersucht mögliche Verwurzelungen und „packt das Sein an der Wurzel“. Die letzte Formulierung stammt von Thiemo Strutzenberger, der in der deutschsprachigen Erstaufführung des unglaublich dichten Stücks im Akademietheater zu sehen sein wird. Gemeinsam mit seiner Kollegin Franziska Hackl treffen wir ihn auf der Probebühne des Burgtheaters im Arsenal. Der gebürtige Oberösterreicher spielt Talyani Wakar Malik, dem Mouawad fünf verschiedene Lebenswege angedichtet hat. In Beirut ist er Inhaber eines Jeansgeschäfts, in Italien ein narzisstischer Neurochirurg, in Quebec ein queerer Künstler, in Paris ein Saxofon spielender Taxichauffeur und in Texas ein zum Tode verurteilter Mörder. Die fünf möglichen Welten beginnen sich im Lauf des Stücks jedoch immer mehr zu überlagern.

Es wird deutlich: Was um ein Haar geschehen wäre, hat einen Einfluss darauf, was gerade geschieht. In seinem Vorwort zum Stück formuliert es Mouawad folgendermaßen: „Was passiert, wenn man sich vorstellt, dass das Universum sich bei jeder Entscheidung spaltet und die Koexistenz einer Alternative miteinbezieht?“ Als verbindendes Element zwischen den parallel existierenden Welten fungiert die zerstörerische Explosion, die sich im Jahr 2020 in Beirut ereignete.

Zur Person: Franziska Hackl

wurde in Wien geboren und absolvierte ihr Schauspielstudium am Max Reinhardt Seminar. Es folgten Engagements u. a. am Schauspielhaus Wien, dem Theater Basel und dem Residenztheater. Sie stand bereits für zahlreiche Film- und TV-Projekte vor der Kamera und gehört nun zum BURG-Ensemble.

Nach vorne schauen

Thiemo Strutzenberger und Franziska Hackl winken ab, als es darum geht, ob sie sich oft mit der Frage beschäftigen würden, was wohl geschehen wäre, wenn sie an dem ein oder anderen Punkt anders abgebogen wären. „Es kommt vielleicht darauf an, wie sehr man zum Grübeln neigt, aber ich schaue grundsätzlich lieber nach vorne“, bringt es Franziska Hackl, die seit dieser Spielzeit zum Ensemble des Burgtheaters gehört, auf den Punkt. Ihr Kollege nickt. Einen kleinen Rückblick wollen wir dennoch machen, denn für die beiden ist es nicht das erste berufliche Aufeinandertreffen.

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Mit nur einem Jahr Abstand studierten sie am Max Reinhardt Seminar, trafen dann im Schauspielhaus Wien wieder aufeinander, wechselten mit Andreas Beck nach Basel und dann ans Münchner Residenztheater. Während des Studiums spielte Thiemo Strutzenberger bereits an der Burg. „Wenn man von Menschen, die man seit ungefähr zwanzig Jahren nicht gesehen hat, willkommen geheißen und umarmt wird, fühlt sich das schon ein bisschen wie Nachhausekommen an“, sagt der Schauspieler und fügt hinzu:

„Das ist nicht selbstverständlich.“

Die Zeit am Schauspielhaus empfand er unter anderem deshalb als besonders prägend, weil aus der Überforderung so etwas wie eine Verschworenheit entstand. „Es ging nicht nur darum, zu spielen, sondern wir haben uns auch auf vielen anderen Ebenen künstlerisch eingebracht. An einem Haus wie dem Burgtheater kann ich diese Dinge viel mehr abgeben und mich vor allem auf die Schauspielarbeit konzentrieren.“

Franziska Hackl nickt wissend und fügt hinzu: „Ich habe aus dieser Zeit unter anderem mitgenommen, dass man sich auch zwei Tage vor der Premiere noch dazu entscheiden kann, Dinge ganz anders zu erzählen. Deshalb habe ich auch jetzt über lange Strecken gar keinen Stress. Ich finde es schön, dass ich diese Coolness – im wörtlichen Sinne – mitnehmen konnte.“

Schicht für Schicht

In „Die Wurzel aus Sein“ ist Franziska Hackl in drei unterschiedlichen Rollen zu sehen. Ob sie eine Lieblingsfigur hat, möchte sie nicht verraten. „Das ändert sich vielleicht auch noch. Außerdem bin ich davon überzeugt, dass man für alle seine Figuren Empathie empfinden muss.“

Gerade seien sie aber ohnehin noch mitten in der Suche, fügt sie hinzu. „Für mich fühlt es sich im Moment ein bisschen so an wie das Schälen einer Zwiebel. Nach und nach packen wir all diese Schichten aus und schauen, was darunter ist oder darunter sein könnte.“

Zur Person: Thiemo Strutzenberger

Thiemo Strutzenberger ist gebürtiger Oberösterreicher und studierte am Max Reinhardt Seminar. Während des Studiums spielte er schon an der BURG. Es folgten u. a. Engagements am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, Schauspielhaus Wien, Theater Basel und Residenztheater München. Er ist auch Dramatiker.

Thiemo Strutzenberger hakt ein: „Abseits der einzelnen Psychologien möchten wir, so ist mein Eindruck, viel über die Beziehungen der Figuren untereinander erzählen. Teilweise sind diese höchst ambivalent – in einer Welt gelingen sie, in einer anderen sind sie wieder total abgründig.“

Fix ist: Auch die weltbeste Mathematikerin wird es vermutlich nicht schaffen, eine Formel für ihr Gelingen zu finden. Zwischenmenschliche Beziehungen sind unberechenbar.

„Es ist nicht der Glaube an einen Weltzusammenhang, der mich all diese Geschichten erzählen lässt, im Gegenteil: Es ist mein Glaube an das Inkohärente der Welt, der mich zum Erzählen von Geschichten, also zum Anfertigen von Zusammenhängen, treibt“, hielt Wajdi Mouawad einmal fest. Eine Aussage, die sich mit Franziska Hackls erstem Eindruck beim Lesen des Stücks deckt:

„Es ist unglaublich mosaikhaft. Und ich habe schon öfter gehört, dass das auch auf den Libanon zutrifft.“

Wir verabschieden uns. Noch ist viel Zeit, um zu all den unterschiedlichen Verwurzelungen des Stücks vorzudringen und das Sein an der Wurzel zu packen. Dass daraus ein packender – ein schöner und zugleich schmerzhaft-berührender – Theaterabend entstehen wird, ist ziemlich sicher.

Die genaue Wahrscheinlichkeit lässt sich jedoch nicht errechnen. Und das ist gut so.

Hier zu den Spielterminen von Die Wurzel aus Sein im Burgtheater!