Es ist kaum mehr auszuhalten. Die Welt schaut ins Handy. Die Welt schaut nicht mehr in die Welt, sondern fotografiert die Welt, auf dass die Welt dann in die Welt geschickt werden kann. Handykameras werden zu Spiegeln, in denen die normierten Gesichter von den Betrachter*innen bewundert werden. Likes heucheln Bewunderung, die so Bedachten glauben, es sei Applaus. Wenn also in einer solchen Welt eine 15-Jährige von Mama Natur mit einer sehr großen Nase bedacht wurde, dann sind Mobbing und Bodyshaming vorgezeichnet.

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„Nasenbär“ und „Spitzmaus“ sind da noch die nettesten Dinge, die sich Sophie Neumann anhören muss. Da hilft es auch nichts, dass ihr „Neumann’scher Zinken“ eine Art Familientradition ist. Peter Lund hat gemeinsam mit Gerald Schuller ein Musical über eine der ganz großen Fragen der digitalen Jetztzeit geschrieben: Was ist schön? „Mitten im Gesicht“ hat demnächst Premiere im Theater der Jugend.

Herr Lund: Was ist schön? Und ist Schönheit überhaupt allgemein definierbar?

Es ist ja nun mal leider so, dass wir dazu neigen, Ebenmaß und Symmetrie schön zu finden. Das ist wissenschaftlich oft untersucht worden und hat wohl etwas damit zu tun, dass Schönheit Gesundheit signalisiert. Zum Glück hat der Mensch aber auch Lust auf das Neue, andere, Aufregende. Und so entdecken wir Schönheit manchmal auch genau da, wo kein anderer sie sieht. Dass das dann manchmal wieder zur Mode wird, kann durchaus zu grotesken Auswüchsen führen. Von daher: Allgemein ist Schönheit nicht definierbar.

Wie sehr verändert Schönheit den Charakter?

Ich glaube, Schönheit beeinflusst den Charakter absolut. Schöne Menschen haben es einfacher im Leben – das ist ungerecht, aber leider nicht zu ändern. Aber es einfach im Leben zu haben, ist für den Charakter gar nicht immer gut. Das wissen wir doch alle: Menschen, die mit Widerständen gekämpft und diese überwunden haben, sind besser gerüstet für die nächste Krise. Für ihre Schönheit bewunderte Menschen haben manchmal nicht all die Tiefe, zu der wir ja zum Glück fähig sind. Von daher wünsche ich jedem schönen Menschen zumindest einen Makel, der es ihm auch ein bisschen schwerer macht ...

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Gleichmaß schwimmt erst mal im gesellschaftlichen Strom mit.

Peter Lund, Regisseur & Autor

Wie sind Sie auf die Idee zum Stück gekommen?

Wie meistens durch eigene Erfahrung. Angefangen hat das sicher mit meiner Verwunderung darüber, dass wir im Vergleich zu meiner Jugend wieder in einer Prinzessinnen- und Superheldenwelt gelandet sind, die ich persönlich nie vermisst habe. Dass das relativ nahtlos in eine Körperoptimierung übergegangen ist, die mir ebenfalls erst mal fremd ist, hat mich interessiert. Und spätestens seitdem man seinen Körper operativ auf Vordermann bringen kann, war das für mich ein wichtiges Thema, über das ich was machen wollte.

Oft wird beklagt, dass es kaum noch Musical-Librettist*innen gibt – woran liegt das, und was ist daran so schwer?

Das ist eine sehr komplexe Frage. Für Musiktheater schreiben heißt, sich an den richtigen Stellen vorzuwagen, aber an anderen auch zurückzustehen, damit die Musik zu ihrem Recht kommt. Eigentlich nicht so kompliziert, aber das muss man üben. Ich hatte dazu in der Neuköllner Oper sehr viel Gelegenheit. Aber da Musiktheater so irre teuer ist, hat kaum jemand die Möglichkeit, sich genug auszuprobieren. Und dann bleibt man natürlich erst mal an den Vorbildern kleben, und es entsteht vorerst wenig Eigenes.

Wie schreibt man ein Musical für jüngeres Publikum – gelten da andere Regeln?

Für mich nicht, außer dass ich finde, im Jugendtheater sollte man immer auch eine Lösung anbieten. Dass diese Welt in ziemlich schlechtem Zustand und offensichtlich kaum noch regierbar ist, sehen junge Menschen ja selbst. Lösungsorientiert schreibe ich aber auch meine Stücke für Erwachsene, von daher ist der Unterschied für mich nicht besonders groß.

Peter Lund
„Mitten im Gesicht“ – das Musical Gemeinsam mit Gerald Schuller hat Peter Lund das Stück geschrieben. Der Inhalt: ein Mädchen und ihr Leben mit einer großen Nase. Ein Stück über Bodyshaming und die Frage: Was ist schön.

Foto: Lupi Spuma

Wie kann man sich selbst lieben lernen?

Wenn ich darauf eine Antwort hätte, müsste ich wahrscheinlich nicht Theater machen. Aber grundsätzlich: nachdenken, sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Und wie beim Schreiben: üben, üben, üben.

Wie ist das, wenn man in der Schule als Jugendliche*r wegen einer Äußerlichkeit nicht dabei ist – welchen Schaden richtet das an?

Ich glaube, das ist die zweitschrecklichste Erfahrung, die man im Leben machen kann. Die erste dürfte sein, wenn die Eltern einen nicht mögen. Gibt es ja leider auch. Aber in der Peergroup nicht vorzukommen, ist unglaublich grausam. Zum Glück hat man meistens die Möglichkeit, in einem neuen Umfeld andere Gruppen kennenzulernen, bis man plötzlich begreift, was für ein dämlicher Haufen das damals in der Schule war.

Es ist eine – von mir aufgestellte und durch nichts belegte – Gewissheit, dass die Schönen und Coolen der Schule im Leben später abstinken. Liege ich richtig? Kann das im Jetzt helfen?

Wie gesagt, schöne Menschen haben weniger Widerstände, und manchmal macht das auch ein bisschen bequem und faul. Und bequeme und faule Menschen mag das Leben meiner Erfahrung nach ja gar nicht. Das ist doch eigentlich eine ganz gerechte Erfindung, oder?

Wenn man auf TikTok oder Insta schaut, dann hat man das Gefühl, dass alle gleich aussehen. Woran liegt dieser Drang zur Schönheitsnormierung?

Gleichmaß schwimmt erst mal im gesellschaftlichen Strom mit, und das wollen wir zu Anfang glaube ich alle. Es braucht viel Selbstbewusstsein, sich gegen eine größere Gruppe zu stellen. Und es gibt kaum eine bessere Möglichkeit, mehr Selbstbewusstsein zu bekommen, als das einmal auszuprobieren.

Theater ist unsterblich, weil wir dem Mainstream etwas entgegensetzen müssen, damit wir überhaupt wir selbst werden.

Peter Lund, Regisseur & Autor

Was machen die Likes und Nicht-Likes auf den Plattformen mit uns?

Die freuen und ärgern uns viel zu viel. Ich bin selbst völlig fassungslos über mich, dass mich Meinungen von Menschen, die ich überhaupt nicht kenne, so tangieren. Das ergibt im Grunde überhaupt keinen Sinn. Aber auf die Idee muss man erst mal kommen.

Was hilft mir ein Traumkörper, wenn ich ein totaler Depp bin?

Leider eine Menge. Man findet viele andere Deppen mit Traumkörper, und weil man ja ein Depp ist, fühlt man sich mit denen sehr wohl und landet dann irgendwann im Dschungelcamp. Zum Glück gibt es noch ein paar Dinge, für die man doch noch ein bisschen Hirn braucht.

Sie haben ja recht viele Patenkinder – was lernen Sie von ihnen?

Ziemlich viel. Und bei diesem Stück natürlich ganz besonders. Wir haben intensiv darüber geredet, was das Internet mit einem macht, warum ein perfekter Körper heute so wichtig ist – und natürlich müssen Sie mir erklären, wie TikTok und Co funktionieren.

Wären Sie gerne heute jung? Oder anders gefragt: Hat das Analoge uns unbeschädigter groß werden lassen?

Ich persönlich bin froh, dass ich noch viel analog machen musste, weil ich sonst vor Langeweile gestorben wäre. Ich weiß nicht, ob ich sonst zum Malen, Basteln oder Klavierspielen gekommen wäre. Aber ich bin überrascht, wie viele meiner Patenkinder irgendwann selbst auf die Idee kommen, mal ein bisschen Digital Detox zu machen. Von daher ist der Unterschied zwischen heute und damals vielleicht doch gar nicht so groß.

Kann man diesem TikTok- oder Insta-Druck überhaupt noch etwas entgegensetzen? Und: Warum ist Theater unsterblich?

Zwei Fragen, eine Antwort. Theater ist unsterblich, weil wir der Gesellschaft und dem Mainstream – und damit TikTok – immer etwas entgegensetzen müssen, damit wir überhaupt wir selbst werden.

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Es ist ja ein Musical: Wie klingt es? – Sie müssen mir jetzt nichts vorsingen ...

Gerald Schuller und ich haben vorher lange darüber geredet, wie ein solches Stück klingen soll. Und es war für uns ziemlich klar, dass es die Hörgewohnheiten der digitalen Generation widerspiegeln muss, von daher ist die Musik schon ziemlich poppig und modern geworden. Ich persönlich bin ja ein großer Freund des klassischen Musicals, von daher sind auch ein paar Nummern drin, zu denen man sogar steppen könnte.

Es geht um eine große Nase. Die hatte Kleopatra und auch Cyrano – wem ist sie mehr ähnlich? Und gibt es da einen Zusammenhang zu diesen Vorlagen?

Wir fangen ja gerade erst mit den Proben an, und wie die Nase aussieht, wissen wir noch gar nicht. Da werden wir in die Maske gehen und mit Knetgummi ein bisschen was ausprobieren. Darauf freue ich mich schon sehr.

Mögen Sie Ihr Äußeres?

Es hat ein bisschen gedauert, aber mittlerweile bin ich ganz zufrieden.

Hier geht es zu Spielterminen von Mitten im Gesicht im Theater der Jugend!