Kommt Ihnen dieser Satz bekannt vor? Meine Güte, wie oft ich ihn schon hören musste, in mannigfaltigen Variationen. Meist als Frage. Was soll das Theater? Oder gleich kollektiv vorausblickend: Was soll das ganze Theater? Ging es darum, zusätzlich ein gewisses Interesse an der Zukunft vorzutäuschen, lautete er: Was wird das hier für ein Theater? An der Gegenwart: Was ist das für Theater? An der Vergangenheit: Was war denn das jetzt bitte für ein Theater? 

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Mach nicht so ein Theater!

Gern wurden anstatt des Begriffs Theater dessen Steigerungsformen bemüht. Komparativ: Kasperltheater. Superlativ: ­Affentheater. Und besonders amüsant natürlich, wenn dieser Satz sein Ende in einem Anführungszeichen fand, meist in Verbindung mit aufgeschürften Knien oder klaffenden Fleischwunden. Auf einem Sessel sitzen, ­reinen, vermutlich schon bei Sonnenlicht entflammbaren Alkohol verpasst bekommen, leider nicht oral, und den eigenen Tränen dabei zusehen dürfen, wie sie waagrecht aus den Augen schießen, um möglicherweise aus­reichend gut beschleunigt einmal um die Erde gekreist als Schweißtropfen wieder ­direkt im eigenen Nacken zu landen. Ja, und als Draufgabe zu diesem Vergnügen gab es dann den Bonustrack zu hören: Mach hier nicht so ein Theater! Kürzer: Mach nicht so ein Theater! Noch kürzer: Schluss mit dem Theater! Ganz kurz: Lass das Theater! 

Befehle, je nach Laune hervorragend mit persönlichen Anreden kombinierbar. Du Waschlappen, Memme, Muttersöhnchen … gefolgt von Erziehungsratschlägen, die auf umfassenden empirischen Erhebungen unter den Sioux, Komantschen, Irokesen, Apachen, Schoschonen, Cheyenne und so weiter be­ruhen. Kurzum die Indianer, die bekanntlich ja ausnahmslos keinen Schmerz und weiß der Teufel was noch alles nicht kennen sollen. 

Eulenspiegel auf dem Doppelbett

Jaja, so war das. Welch ein Theater! Wenn ich mich nun richtig entsinne, kam mir der als Rüge gebrauchte Begriff Theater nur als Kind und Jugendlicher zu Ohren. Ausgesprochen wurde er von Erwachsenen, wie ich womöglich selbst längst einer geworden bin, die in dem Ordnungssinn und der Freiheit ihrer eigenen Kindheit nur noch den Saustall erkannten. Dieses unaufgeräumte Zimmer und Leben aber war einst für uns ­Gschrappen kein unaufgeräumtes, sondern die erträumte Wirklichkeit; die Welt kein Spielplatz, wie so gern behauptet wird, sondern schlichtweg unsere Welt, die es zu entdecken galt; die Gravitation war eine voll Schwerelosigkeit. Als pudelnackter Till Eulenspiegel so lange auf dem Doppelbett der Eltern herum­springen, die Pyjamahose auf dem Kopf, bis die Federn der Tuchent und der Federkernmatratze endlich ihre Freiheit fanden. 

Vorhang auf und Bühne frei

Ja, und vielleicht kam dabei einem unserer Elternteile die Idee, eine ähnliche Übung ausnahmsweise mit dem Partner zu vollziehen. Pfeif auf die Federn. Willkommen im Leben. Seinem ureigenen Zweck. Es wahren, auskosten, kommen und gehen. Vorhang auf und Bühne frei. Also zurück zum Thema: Theater. Denn wenn es ein immerwährendes Bindeglied gibt, eine Brücke zwischen dem Kind-gewesen- und Erwachsen-geworden-­Sein, dann das Theater. 

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Und so leid es mir aus tiefstem Herzen auch tut, hochgeschätzte Leserinnen und ­Leser, es bleibt uns nun ­dieses elende Thema nicht erspart, dem wir seit einem Jahr aus­geliefert sind. Denn die Richtung hat sich ­geändert. Dem sei auch voraus­geschickt, wie meilenweit ich davon entfernt bin, unsere ­Gegenwart zu bezweifeln. Wir haben Freunde an diesem Virus sterben ­„sehen“, haben Bekannte, die sich nur schwer erholen, haben große Sorge, unsere Kinder zwecks Schulbesuches in die voll besetzte S-Bahn oder Straßen­bahn steigen zu lassen. Bei uns zuhause ­stapeln sich FFP2-Masken, die Wände könnte ich damit tapezieren und obendrein eine komplette Kleingartensiedlung befunden, so viele Antigen-Rapid-Tests liegen in unseren Laden.

Ja, und wenn Oma zu Besuch kommt, sind wir steril wie einst die ausgekochten Schnuller unserer Töchter.

Symptome ohne Heilungschancen

Nur in Shakespeares „Der Widerspenstigen Zähmung“ mag es vergnüglich sein, wenn Katharina und Petruchio sehenden Auges vor der Wirklichkeit stehen und sich dar­über streiten, ob nun die Sonne oder doch der Mond scheint. Für das Leugnen der Gegenwart aber fehlt mir jedes Verständnis. Und ­genau deshalb frag ich mich: Was stimmt hier nicht? Erwachsene, die ihren Spröss­lingen gegenüber den Begriff ­Theater als Zurechtweisung missbrauchen, damit zu ­leben haben wir gelernt. Was aber, wenn sich der Spieß umdreht? Wenn Kinder uns Erwachse­nen plötzlich erklären: Schluss mit dem ­Theater!

Kinder, denen die Vorstellungskraft, das Einfühlungsvermögen, die Begeisterungsfähigkeit fehlen, den unendlichen Raum an Möglichkeiten zu erkunden und unter jedem Dunkel nicht nur eine, sondern alle Farben zu entdecken? Damit zu leben will ich nicht lernen. Um keinen Preis. Und schon gar nicht, wenn dabei jene Erwachsenen auf der Strecke bleiben, die sich nachweislich mit ausgeklügelten Konzepten um größtmögliche Sicherheit kümmern, alles an Möglichkeiten ausschöpfen, dieser Welt das „Kindliche“ zu bewahren, Momente des Seins, des Staunens, des Träumens, des Hinterfragens, des Suchens und Findens. 

Die Theater als Brücken

Menschen, die einfach nicht vergessen wollen, was Kultur an Freiheit für dieses Land geschaffen hat, was sie bewirkt, selbst in den schwersten Zeiten – und einbringt. Deren Verlust führt zu Symptomen, die keine Impfung oder gar Geldspritze dieser Welt zu heilen imstande ist. Vieles wurde zu Beginn dieser Krise klug und umsichtig entschieden. 

Regieren darf aber niemals bedeuten, sich eine auf der eigenen Werteskala von Bedeutsamkeit beruhende, subjektive Wirklichkeit zu schaffen und diese für andere als objektiv zu definieren.

Regieren muss erpicht darauf sein, eine Wirklichkeit zu betrachten, die tatsächlich existiert. Darum bitte: Reißt uns die Brücken nicht weg. Schluss mit dem Theater. Sperrt es endlich wieder auf.

Zur Person: Thomas Raab

Der 50-jährige Schriftsteller, Musiker und Drehbuchautor wurde vor allem durch seine Kriminalromane rund um den Restaurator Willibald Adrian Metzger bekannt (verfilmt mit Robert Palfrader). Viel beachtet auch sein Roman „S†ill. Chronik eines Mörders“ und die neue Krimireihe mit Hauptfigur Hannelore Huber. 

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Thomas Raab