Kennen Sie die Geschichte von dem Rabbi, der sich den Kopf darüber zerbrach, wie es sein konnte, dass Gott am ersten Schöpfungstag das Licht, aber erst am vierten Tag die Sonne erschaffen hat? Er hat die ganze Bibel durchforscht und den Talmud dazu, hat sich bei klügeren Schriftgelehrten erkundigt. Ob er etwas finde. Er hat nichts gefunden. Es kann doch nicht sein, dass Gott einen Blödsinn redet, dachte er sich. Und da träumte er, Gott spreche zu ihm. Es gebe zwei Arten des Findens, sagte Gott in seinem Traum, ein äußeres Finden und ein inneres Finden. Das äußere Finden werde „Finden“ genannt, das innere Finden werde „Erfinden“ genannt. Innen und außen habe er, Gott, seine Wahrheiten versteckt. Und da hat der Rabbi eine Geschichte erfunden, warum erst das Licht und drei Tage später die Sonne erschaffen wurde.

Anzeige
Anzeige

Ich versuche mich zurzeit an einem autobiografischen Text. Das habe ich bisher noch nie getan. Es fällt mir leicht und schwer zugleich. Ich denke über die Namen nach, die ich den Personen in meiner Geschichte gebe, und ich komme auf keinen grünen Zweig. Als ich die wahren Namen verwendete, hatte ich Skrupel, auch nur eine Szene zu erfinden. Wie sollte ich in die Gedanken oder Gefühle der Personen vordringen dürfen, die in dieser Szene aufeinandertreffen? Schon bei der direkten Rede fühlte ich mich unbequem, sie behauptet ja zwischen Anführungszeichen: Genau so ist gesprochen worden.

Die Beschreibung eines Hutes – ich kann mich doch mit dem besten Willen nicht erinnern! Aber es ist schön, ihn zu beschreiben, denn der Mann in dieser Szene trägt einen Hut, und nicht nur schön ist es, sein Wesen ist mir näher mit Hut als ohne Hut … Ich dürfte keine Ausschmückung meiner Erinnerung dulden. Wie könnte ich mir anmaßen, aus den Augen eines anderen Menschen zu schauen, eines Menschen, der noch lebt oder der gelebt hat! Darum habe ich mich entschlossen, den Personen in meiner Geschichte andere Namen zu geben. Mich selbst eingeschlossen. Ich empfand große Erleichterung.

Nun wird ein Leser kommen und sagen: Aha, das ist also alles erfunden! Ich will antworten: Nicht alles. Goethe nannte seine Autobiografie „Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit“. Ich denke, er wollte damit sagen: Es geht doch nur so! Und dass er die Dichtung vor der Wahrheit nennt, hat – so meine ich – nichts anderes zu bedeuten, als dass in seinem Buch mehr von der einen als von der anderen enthalten ist. (In einem Gespräch mit Eckermann allerdings vertauscht er die Plätze: „Ich nannte das Buch ‚Wahrheit und Dichtung‘, weil es sich durch höhere Tendenzen aus der Region einer niederen Realität erhebt.“ – Auf beiden Seiten lauert das schlechte Gewissen.)

Dichtung und Wahrheit

Seit einiger Zeit hat sich unter Kritikern ein Begriff verbreitet: „autofiktionales Schreiben“. Als ob das eine Neuheit wäre. Neu ist, dass die Kritiker einen neuen Begriff geschaffen haben. Ich möchte nicht glauben, dass sie ihn geschaffen haben, weil sie keines der Bücher aus den vergangenen Jahrhunderten kennen, in denen sich Dichtung und Wahrheit als ein mehr oder weniger durchschaubares Gewebe dem Leser präsentierten. Ich kann mir keine Autobiografie, keine Biografie denken, die nicht aus einem solchen Gewebe besteht. Schon in den Doppelbiografien des Plutarch ist mehr Fiktion als überprüfbare Wirklichkeit enthalten. Auch aus dem Briefwechsel zwischen Heloise und Abaelard lässt sich nicht ein „wahres Bild“ der beiden ungewöhnlichen Liebenden gewinnen.

Er schreibt und dichtet, wie er gesehen und gelesen werden möchte, und schreibt und dichtet, wie er seine Geliebte sieht, und mehr noch, wie er möchte, dass sie denken soll, dass er sie sieht. Und Heloise tut genauso. (Nebenbei: Die Liebesgeschichte der beiden ist eine der berührendsten Sensationen innerhalb des Genres.) Aus den „Confessiones“ des Augustinus und den „Confessions“ von Jean-Jacques Rousseau erfahren wir mehr darüber, wie ein Leben hätte sein sollen, als wie es tatsächlich war. Churchills Biografie seines Vorfahren John Churchill, des 1. Duke of Marlborough und Fürsten von Mindelheim, gerät an manchen Stellen zu einer Selbstdarstellung des Autors, die uns seine eigenen Gedanken und Gefühle näher bringt, als er es in seiner Autobiografie „My Early Life“ und in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zugelassen hat.

Anzeige
Anzeige
Falco

Moritz Mausser: Held von heute

Er ist 23, studiert noch, war schon Fräulein Rottenmeier und hat ein Faible für 3D-Drucker. Mit seiner Rolle des komplexen Grenzgängers Hans Hölzel in „Rock Me Amadeus – Das Falco-Musical“ wurde Moritz Mausser schlagartig zum adorierten Bühnenstar. Weiterlesen...

Das Herzklopfen der Dichter

Ich verteidige mich gegen mein eigenes schlechtes Gewissen und suche nach Advokaten. Der Leser möge es als ein Zeichen meiner Unsicherheit deuten. Ich will niemanden aus meiner Verwandtschaft kränken oder verärgern, und sei es dadurch, dass ich so tue, als wüsste ich, was er oder sie denkt oder gedacht hat. Auch die Toten möchte ich nicht kränken. Sie schon gar nicht, die sich nicht mehr wehren können. Ich spüre ja auch Empörung in mir, wenn jemand tut, als wüsste er über mein Innerstes Bescheid, sogar dann, wenn es stimmt. Diese Art von Souveränität will man niemandem zugestehen.

Die Arbeit des Schriftstellers ist nicht seriös. Die Aneignung von Fremdem ist Herzstück seines Berufes. Auch ein grönländischer Autor soll – bei Gott! – über das Leben in der DDR schreiben dürfen! (Gerade wird im deutschen Feuilleton debattiert, ob eine nach der Wende geborene Schriftstellerin das darf.) Für den Dichter gilt das Als-ob mehr als die Wahrheit, die Möglichkeit mehr als die Wirklichkeit. Das laute Pochen auf die Wahrheit, mit dem manche Kollegen ihre Arbeit adeln wollen, soll das Herzklopfen übertönen, das der Dichter in sich hört, wenn er seine Arbeit tut – das Herzklopfen, das Platon uns vor zweieinhalbtausend Jahren eingepaukt hat, als er schrieb, die Dichter lügen zu viel.

Er wollte sie aus seinem Staat verbannen. Was er unter Lüge verstand, ist ebenjenes Als-ob, ohne das keine zwei Seiten Literatur zustande kommen. Dass unter dem Titel meiner Geschichte „Roman“ stehen wird, ist die Wahrheit – und zugleich die einfachste Methode, dieselbe zu verschleiern. Ich erinnere an den Rabbi, der „Finden“ und „Erfinden“ als zwei Seiten unserer von Gott gegebenen Fähigkeit der Erkenntnis bezeichnete. Und gestehe zugleich: Diesen Rabbi und seine Geschichte habe ich erfunden.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou