„Haben Sie schon mal im Dunkeln geküsst?“ Gleich zum Einstieg in ihre neue CD stellt Ethel Merhaut diese rhetorische Frage. Vielleicht „In der Bar zum Krokodil“ oder „In einem kleinen Café in Hernals“? Möglicherweise waren Sie „Mad about the boy“ oder einfach „Falling in love“. Egal, denn „Wenn die Sonne hinter den Dächern versinkt“ ist es sowieso immer „Das alte Lied“ … „Whatever“! Und am Ende heißt es dann „Auf Wiedersehen my dear“. Wer jetzt an Greta Keller, Fritzi Massary oder Marlene Dietrich denkt, liegt nicht ganz falsch. Denn sie alle zählen eher zu den Idolen von Ethel Merhaut als ihre Generationsgenossinnen Dua Lipa, Billie Eilish oder Charli XCX.

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Ihren seltenen Vornamen, der, aus dem Germanischen hergeleitet, edel bedeutet, aber auch ein gängiger jüdischer Schtetl-Name war, verdankt sie ihrer Urgroßmutter. Ihr Faible für die 20er und 30er Jahre des 20. Jahrhunderts lassen sich auch feministisch deuten. „Ich finde, das ist doch der eigentliche Beginn unserer modernen Zeit. Damals haben sich Frauen nicht nur wesentliche Rechte erkämpft, sondern waren sowohl in der Gesellschaft als auch in der Kunst und Kultur erstmalig präsent. Das war auch die Zeit der starken Diven, die ein ganz neues Frauenbild geschaffen haben und in ihrer künstlerischen Tätigkeit zwischen allen Genres zuhause waren. Und genau dieses Herumschweben – von der Operette über das Musical bis hin zum Chanson – schätze auch ich.“

Keine Arien mehr

Interessanterweise fehlt in dieser Aufzählung die Oper. Dabei hat Ethel Mehrhaut klassischen Sologesang studiert. „Anfänglich hat mich dieser Weg auch wirklich interessiert, sonst hätte ich ihn nicht eingeschlagen. Es hat auch lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass meine Zukunft woanders liegt, und ich loslassen konnte. Eigentlich habe ich mich ständig verkrampft, weil ich zwischen der Art zu singen und dem Text keine Verbindung aufbauen konnte. Ich habe versucht, schöne Töne zu produzieren, es war mir aber unmöglich, die jeweilige Figur auch glaubhaft darzustellen. Das war nicht meines. Also habe ich es gelassen.“ Welch ein Glück, sonst wäre dem Publikum womöglich eine geborene Chanteuse verloren gegangen.

Jene Sehnsucht, der Ethel Merhaut in ihren Liedern zum Ausdruck verhilft, ist zwar ein die Zeiten überdauerndes menschliches Verlangen – etwas, das, wie sie sagt „im Menschen verankert ist und bleibt“ –, dennoch vergleicht sie das spezielle Gefühl der 1920er und 1930er Jahre mit aktuellen Strömungen. „Wir befinden uns zwar zum Glück nicht zwischen zwei Weltkriegen, aber doch in einer Epoche, die sehr ins Schwanken geraten ist. Abgesehen vom Politischen, spüre ich um mich herum auch eine Form von persönlicher Gereiztheit und Stress – alle sind permanent atemlos und dankbar für die kurzen Momente, in denen sie wieder einmal Spaß haben können. Der globale Aspekt der sozialen Medien war damals natürlich nicht evident, dennoch ist viel Neues aufgepoppt, was zu einem ähnlich gehetzten Lebensgefühl geführt hat. Im Explosiven sehe ich eine deutliche Verbindung.“

Was heute aber leider wegfalle, sei die Freizügigkeit, wenn man etwa an die Goldenen Zwanziger in Berlin denke. „Aber Wien war da ohnehin weit weniger frivol. Als Josephine Baker 1928 im Ronacher auftreten sollte, wurde darüber im Parlament diskutiert und man verweigerte ihrer Show schließlich die Bewilligung. Wenn man sich TV-Dokus über das damalige Berlin anschaut, kommt es mir so vor, als wären wir heute längst nicht mehr auf diesem Level, was Offenheit und Toleranz betrifft.“

Ethel Merhaut
Der Zeitgeist der 1920er und 1930er Jahre – von Ethel Merhaut elegant in unterschiedliche Programme verpackt.

Mato Johannik

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Stargespicktes Video

Diesen speziellen Zeitgeist – in dem sich ebenfalls viele Ähnlichkeiten zur Gegenwart finden lassen – hat Ethel Merhaut in einem parallel zum Album veröffentlichten Musik-Kurzfilm festgehalten. Er heißt, wie auch der zugehörige Song, „Zeig der Welt nicht dein Herz“ und wurde unter Mitwirkung zahlreicher Künstler*innen wie Tilman Tuppy, Nick Romeo Reimann, Kartharina Strasser, Claudia Kottal oder FJ Baur in der legendären Eden Bar aufgenommen.

„Ich habe mich im Sommer mit Regisseurin Beate Thalberg zum Brainstorming getroffen, und auch ihr ist sofort der Inhalt dieses Liedes aufgefallen. Sein Textdichter, Bruno Balz, war ebenfalls ein spannender Mann, weil er schwul war, verfolgt wurde, aber dennoch im Nazisystem gearbeitet hat. Die Bedingungen waren auch nach dem Krieg noch sehr hart für ihn, weil man ihn dann als Nationalsozialisten bezeichnet hat und er als Homosexueller weiterhin diskriminiert wurde. In seinen Texten, die extrem populär waren, gibt es aber stets auch eine sehr persönliche Ebene. Wir dachten jedenfalls, dass es in Zeiten des starken Rechtsrucks notwendig sei, ein filmisches Zeichen zu setzen.“ Burgschauspieler Tilman Tuppy spielt darin einen Mann, der auf der Straße als Schwuchtel beschimpft und geschlagen wird, ehe er in dieser schummrigen Bar, die ein Auffangbecken für geschundene Seelen und exzentrische Außenseiter ist, landet. „Man merkt aber, dass trotz der herrschenden Partystimmung etwas nicht stimmt, die ersten Risse sind bereits erkennbar.“ Ethel Merhaut verkörpert – „Zeig der Welt nicht dein Herz“ singend – so etwas wie Heilung.

Ethel Merhaut
Live on stage: Ethel Merhaut mit ihrer eigenen Band.

Merhaut

Vielschichtige Programme

Die 1920er und 1930er Jahre waren eine musikalisch äußerst reiche Zeit, in der sich Komponisten und Textdichter produktiv regelrecht übertrafen. Nach welchen Kriterien wählt die Sängerin also jene Lieder, die sie als Interpretin zu ihren eigenen macht, aus? „Das kommt auf das jeweilige Programm an. Wobei mir die Qualität der Lieder – sowohl musikalisch als auch textlich – noch wichtiger ist und ich mir manchmal erst im zweiten Schritt überlege, was ich mit ihnen mache. Man muss ein gutes Gefühl haben, um die richtige Mischung zu finden. Momentan wächst meine Lust an Kurt Weill und Georg Kreisler stetig, und ich suche mir bevorzugt Lieder aus, bei denen ich auch Figuren darstellen kann.“ Überhaupt sei Schauspiel eine weitere künstlerische Ausdrucksform, die sie stark interessiere.

Ethel Merhauts Vielfalt spiegelt sich auch in ihren aktuellen Programmen wider. Gemeinsam mit Gerti Drassl hat sie den Abend „Travestie der Liebe“ entwickelt. Zudem kann man sie an der Seite von Karl Markovics, Katharina Strasser, Wolf Bachofner und Bela Koreny in „Bronner & Kreisler“ erleben. Mit eigener Band singt sie in „Tief wie die Nacht“ Lieder, in denen jiddische Musik mit deutschen Texten verschmilzt. „Frauenparadies“, begleitet vom Orchester Divertimento Viennese, widmet sich den Diven der 1920er und 1930er Jahre und spannt einen Bogen von der klassischen Operette bis hin zum Swing. Und last but not least gibt es auch noch das Programm „Mendele Lohengrin“ mit dem Jewish Chamber Orchestra: Ein musikalisches Singspiel, neu vertont, aber mit Wurzeln im letzten Jahrhundert.
„Auf der Bühne zu stehen, bedeutet für mich Freiheit“, fasst sie zusammen, warum sie ihr enormes Arbeitspensum schätzt. „Ich kann den Alltag loslassen und Gefühle zeigen, die ich privat gar nicht nach außen tragen möchte. Vor allem aber liebe ich es, mit anderen musikalischen Menschen und Schauspielern zu interagieren und genieße diese spezielle Energie, die entsteht, wenn etwas im Fluss ist.“

Und was macht Ethel Merhaut, wenn sie sich gerade nicht mit Musik beschäftigt? „Mein soziales und kulturelles Leben ist derzeit etwas eingeschränkt, weil ich zwei kleine Kinder habe“, antwortet sie amüsiert, „aber wenn ich es mir aussuchen kann, gehe ich sehr gerne ins Theater oder in Konzerte.“ Ihr nächstes künstlerisches Vorhaben stehe noch in den Sternen, weil es eine Vielzahl an Optionen gäbe. „Vielleicht wird es ein spannendes Projekt in Kooperation mit einem Sänger oder einer Sängerin, vielleicht etwas in englischer Sprache, vielleicht probiere ich mich aber auch ein wenig mehr im Film aus.“ Oder vielleicht alles zusammen? Wundern würde es einen jedenfalls nicht.

Termine & Infos: ethelmerhaut.com