Ich saß in der runtergerockten Kantine der Volksbühne in Berlin und inhalierte Patina. Die Beleuchtung war im Krisenmodus, also alles entsprechend düster, das Bier schmeckte schal, die auf der schwarzen Kreidetafel angekündigte Bockwurst war – ebenso wie die anderen fünfzehn angeführten Snacks – „nee, heute leider nicht...“.

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War alles egal, wenn ich mir überlegte, wer auf den speckigen Stühlen hier schon gesessen haben mag, seine Textunsicherheiten in ein paar Klaren ersäuft, Zickenkriege ausgefochten hatte und sich in wilden Debatten in die Wolle geraten war. Max Reinhardt leitete hier mit seinem Zauberstab der Fantasie, Erwin Piscator reformierte und revolutionierte – was die Nazis hier veranstalteten, klammere ich aus.

Hier tobten die Studenten, die 1989 den Mauerfall maßgeblich mit ins Rollen brachten. Und viele Jahre später wurden diese Bretter zu einem Spielplatz ohne Grenzen für verhaltensoriginelle weiße Männer wie Frank Castorf, Christoph Schlingensief, Herbert Fritsch, Christoph Marthaler oder eben den erst unlängst verstorbenen René Pollesch, der auch Intendant des Revolutionsschreins war.

Man kann getrost davon ausgehen, dass hier die wilden Jungs ästhetisch gehen lernten und der Stil, der von hier aus auf die deutsche Theaterlandschaft strahlte, in seiner leicht trashigen, anarchisch-dadaistischen Anmutung prägend für viele Regiehandschriften wurde. Festwochen-Intendant Milo Rau ist ein Ziehkind der Volksbühnen-Anarchos.

Das Ticket für das Stück „Mein Gott, Herr Pfarrer!“, eine der letzten Text- und Regiearbeiten von Pollesch, kostete (unermäßigt) 12 Euro, angeblich unterstützte der Berliner Kultursenat jedes Ticket mit mehr als 100 Euro. Der Abend gestaltete sich sehr kryptisch, denn wenn man Ingmar Bergmans Œuvre nicht schnipp-schnapp im kleinen Finger hatte, konnte man den Inhalt des Stückes nicht einmal erahnen. Ähnlich allein gelassen hatte ich mich zuletzt bei „Orlando“ im Akademietheater gefühlt, aber vielleicht ist es auch etwas vermessen oder auch spießig, nach Stücken zu verlangen, zu deren Verständnis man keine Vorkenntnisse braucht.

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Es war in jedem Fall vergnüglich, Benny Claessens und Sophie Rois nach langjähriger Volksbühnen-Abstinenz (leider etwas sehr leise) beim Baldowern zuzuschauen. Und ich dachte an die Proteste bezüglich der angedrohten Kürzungen im vergangenen November für Berliner Theater wie das Berliner Ensemble, das Maxim Gorki Theater, die Schaubühne und eben die Volksbühne, die nach der Aufregung nicht ganz so drastisch, aber dennoch schmerzhaft werden sollen. Und an die vielen Menschen, die im März in der jahrzehntelangen Avantgarde-Metropole Graz so verzweifelt wie schockiert auf die Straßen gingen, weil sie die Kürzungen für Hunderte Initiativen und Institutionen unter der blau-schwarzen Landesregierung nicht fassen konnten.

Wenn der Staat oder die Stadt die Theater am ausgestreckten Arm auf Budgetdiät oder gar auf Hungerkur setzt, verkarstet er urbanes, aber auch geistiges Leben: Theater gehören zum Pulsieren einer Großstadt wie Buchhandlungen, Cafés, Kabaretts, Kinos, Wochenmärkte und Wirtshäuser, alles wichtiges Inventar eines analogen Lebensstils und so essenzielle geistige Kuschelzonen. Eines Lebensstils, der im Zuge des ausufernden „second life“ in Digitalien und der damit einhergehenden Verpeilung unseres Denkens immer wichtiger wird.

„Vermehrt Schönes!“ hieß ein Festwochen-Werbeslogan vor zwölf Jahren. Vermehrt aber auch Unbequemes, Anarchisches, Schockierendes und Erschütterndes.

Und rührt die Theater nicht an!