Tatsächlich beneide ich Frankreich und seinen Umgang mit dem Kino. Nicht nur in Cannes, sondern bei jeder Pariser Filmpremiere glamourt es, dass einem die Augen durchdrehen. Erinnern wir uns an Bella Hadids Cannes-Auftritt mit zwei bombastischen Goldpalmen im Dekolleté ihres Schiaparelli-Kleides! Kürzlich sah ich auf dem Instagram-Account des Berliner Ensembles das Foto eines leeren Zuschauerraums, auf der Bühne blitzte nur die Neonschrift-Installation „Love me“.

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Und Lieben sollte ja auch immer etwas mit Respekt zu tun haben. Deswegen finde ich es sehr schade, dass das Publikum eine gewisse Nachlässigkeit an den Abend legt, was das Styling für Bühnenausflüge betrifft. Abgesehen von den Salzburger Festspielen natürlich, bei denen das Rascheln der Roben zur Geräuschkulisse des Spektakels gehört. Diese Nonchalance hatte man früher allenfalls bei den Hardcore-Besuchern der Wiener Festwochen beobachten können, die damit auch signalisierten:

„Hallo! Ich bin bitte sehr Avantgarde-affin! Und Kunst ist für mich keine Lifestyle-Trophäe, sondern Alltag!“ Bitte das jetzt nicht als Aufforderung misszuverstehen, sich in Christbaum-Dimension aufzubrezeln. Der Idealfall ist die Dresscode-Temperatur „knapp unter Cocktail“ – zumindest bei Premieren. Denn auch beim Scanning des Zuschauerraums beobachtet man selbst in der prickelnden Erstaufführungs-Atmosphäre einen Überhang an Alltagsklamotten.

Klar, die Schauspielstudenten in ihren Hoodies und Wohnhosen in allen erdenklichen Schwarzschattierungen signalisieren uns: „Wir sind nur aus professionellen Gründen hier.“ Eigenartig, dass auch die „leading teams“ beim Premieren-Verbeugen nahezu konsequent ostentatives Downdressing betreiben. Manche dieser Kreativen wirken so, als ob sie beim Küchenputz von der plötzlichen Erkenntnis überwältigt wurden, dass ja heute Premierenabend ist und sie noch vor Publikum müssen.

Zur Person: Angelika Hager

Sie leitet das Gesellschaftsressort beim Nachrichtenmagazin „profil“, ist die Frau hinter dem Kolumnen- Pseudonym Polly Adler im „Kurier“ und gestaltet das Theaterfestival „Schwimmender Salon“ im Thermalbad Vöslau (Niederösterreich).

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Dass sich nun auch die Zuschauer, was den Behübschungs-Enthusiasmus betrifft, zunehmend gehen lassen, ist möglicherweise mit einer pandemie- bedingten Lethargie, was den Gestaltungswillen der eigenen Erscheinung betrifft, zu erklären. Zwei Jahre im Homeoffice, wo man bei Zoom-Konferenzen in „leisure wear“, so der Influencer-Terminus für schlappe Sport- und Schlafbekleidung, vor dem Schirm Mitarbeitsbereitschaft zu mobilisieren suchte, hinterließen auch in unserem Kleiderschrank Spuren. Was ergibt es denn überhaupt für einen Sinn, einem Fiebertraum von Vintage-Schnäppchen hinterher zujagen, wenn der Catwalk auf Wohnzimmer-Küche reduziert ist?

Die Schriftstellerin Isabel Allende erzählte in einem Interview, dass sie sich morgens in einer Abendrobe an den Schreibtisch setze, weil ihre Inspiration, so „gerüstet“, einen ganz anderen Fluss nehmen würde. Da fallen mir die vielen Psycho- Pandemieflüsterer ein, die als goldene Regel für die Isolation aufforderten, die Wohnungen immer besuchsfein zu gestalten und auch uns selbst ein adrettes Erscheinungsbild zu gönnen.

Ich erinnere mich auch an eine jahrelange Dauergästin bei unserem Festival „Schwimmender Salon“ in Bad Vöslau, die sich zwar nie einen Sitzplatz kaufte, aber auf ihrem eigenen Liegestuhl stets mit friseurfrischem Taft-Haar, neben sich einen Piccolo in der Kühltasche, im langen Abendkleid Platz nahm. Sie signalisierte uns damit: „Es ist mir ein Fest!“ Und das ist das, was unsere Künstler gerade jetzt am meisten von uns brauchen.