Die Meinungs- und Leidensbericht-Maschine rollt. Im Fahrwasser der NDR-Dokumentation „Gegen das Schweigen“ melden sich in sozialen und anderen Medien viele Schauspieler*innen zu Wort, die von Schrei- und Demütigungsorgien seitens diverser Regisseure erzählen. Gerüchten zufolge sollen einige dort ins Radarsystem geratene mutmaßliche Täter sich mittels Heerscharen von Medienanwälten aus der Dokumentation wieder rausmanövriert haben. „A bissl was geht immer …“ ließ schon Helmut Dietl seinen Monaco Franze sagen.

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Tatsächlich stellt man sich bei manchen dieser Erfahrungsberichte die Frage, warum sich so viele diese als solche Torturen empfundenen Kreativitätsprozesse, die offensichtlich schwere Traumatisierungen hinterlassen haben, gefallen lassen haben. Der freie Wille ist doch das große Geschenk, das die Aufklärung hinterlassen hat. Die Argumente sind ähnlich: wirtschaftliche Abhängigkeit, Leidenschaft für den Beruf, lähmende Angst, erfolgreiche Einschüchterung. Nicht zu vergessen: schweigende Kolleg*innen, die solchen Machtmissbrauchsritualen beigewohnt und nicht eingegriffen haben, womit sie diese Systeme mitgetragen haben.

Dennoch ist in diesen Erlebnissen nicht von den brutalen Schnitzler’schen Zeiten der Jahrhundertwende die Rede, sondern in der Regel vom Beginn des 21. Jahrhunderts oder dem letzten Drittel des 20. Zu Schnitzlers Lebzeiten musste weibliches Personal in vielen Bereichen Schreckliches erdulden, und jene Szene aus dem „Reigen“, in der Schnitzler seine traumatisierenden Erlebnisse mit der Schauspielerin Adele Sandrock zu verarbeiten wusste, zeigt, dass auch Frauen durchaus zu sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch fähig sind. Aber solche Zustände liegen seit gut einem Jahrhundert zurück.

Inzwischen haben der Feminismus und seine Protagonistinnen vieles ermöglicht. Noch nicht genug – nach oben ist die Veränderungserfordernis einer Gesellschaft sowieso immer offen –, aber doch einiges. Es gibt Betriebsräte, es existieren Vertrauenspersonen, es gibt ­Sicherheitsnetze gegen Missbrauch und Gewalt. Überspitzt formuliert: Die Theater- und Filmbranche ist kein Sweatshop in einem Entwicklungsland, wo sämtliche zivilisatorischen Errungenschaften wie Respekt und Empathie ausgehebelt worden sind und Opfern keine Stimme gegeben wird.

Dass der mediale Fokus jetzt mit solcher Intensität auf diese Branche gerichtet ist, hat natürlich auch mit dem Glamour und Glanz an der Oberfläche zu tun. Kein Zweifel, und darüber herrscht ja sowieso Konsens: Die Durchschlagskraft der #MeToo-­Welle, die seit 2017 tektonische Verschiebungen im Umgang zwischen den Geschlechtern ausgelöst hat, war und ist großartig, denn seither haben sich die Standards, was geht oder was eben nicht einmal mehr anzudenken ist, im kollektiven Moralbewusstsein drastisch geändert.

Nur: Die darstellende Kunst und die damit verbundenen Entstehungsprozesse sind nun einmal keine therapeutische Wie-geht’s-dir-damit-Ver­anstaltung, sondern da wird (wie zum Beispiel auch in jeder normalen Familie) gestritten, geweint, Türen werden geschlagen, es wird heftig debattiert und sich wieder versöhnt. „Es darf auch schon einmal laut und unangenehm werden“, sagt die 27-jährige Schauspielerin Paula Nocker, zurzeit die Nina in Tschechows „Möwe“ im Theater in der Josefstadt, „wichtig ist nur, dass der Respekt nicht verlorengeht. Und am Ende muss man sich die Hand geben und sich dabei in die Augen schauen können.“

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