Ich würde gerne über alles reden, nur nicht über Corona. Aber dafür müsste ich wahrscheinlich in ein Schweigekloster gehen“, sagt Markus Hinterhäuser und grinst. „Und ich würde gerne einmal ein Inter­view machen, bei dem man nur schweigt“, sage ich. Das Grinsen Hinterhäusers wird breiter. Der Intendant der Salz­burger Festspiele liebt verbales Tischtennis. Und er wärmt sich gerade auf: „Das hätte die Dimension von John Cages Gedicht ­‚Silence‘: ‚I have nothing to say and I am saying it and that’s poetry …‘ Das ist doch großartig, oder?“ 

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John Cage und Leonard Cohen – Hinterhäuser ist Fan von beiden: „Es geht bei einem perfekten Lied immer um den Anfang, um die ersten Zeilen. Alles, was danach kommt, ist auch wichtig, die Initialzündung entsteht aber gleich am Beginn. ‚I remember you well in the Chelsea Hotel‘ ist einfach ein Einstieg in ein Lied, wie er idealer nicht sein könnte.“ Einige Zeit plaudern wir so weiter, darüber, dass er als Kind am Strand von La Spezia, wo er geboren wurde, für hundert Lire „Marina, Marina“ von Rocco Granata gesungen hat und wie er das erste Mal in Salzburg „Parsifal“ unter Herbert von Karajan gesehen hat. „Es hat mich vollkommen hypnotisiert, das war wie Opium. Ich war einfach überwältigt.“

Hinterhäuser ist ein begnadeter Pianist und erfolgreicher Theater- und Festi­valmacher. Wir treffen ihn, um von ihm einen ganz persönlichen Guide durch das Programm der Salzburger Festspiele zu erfragen. Zum Zeitpunkt des Gesprächs – es ist Mitte Mai – ist leider noch nicht klar, was der Sommer bringen wird. Aber wir sind positiv gestimmt.

Das Warm-up läuft gut, und es ist Zeit, Markus Hinterhäuser ein paar Bälle zu servieren, die er lange stehen lassen kann. Plaudern werden wir später wieder.

Ich habe im vergangenen ­Pandemiejahr zwei Arten von ­Intendanten kennengelernt: die Depressiven und die Manischen. Zu welchen gehören Sie?

Ich glaube, dass ich eine ganz gute innere Balance habe, wie ich mit diesem Beruf oder mit diesen zwei Berufen, die ich habe, halbwegs produktiv umgehe. Ich überschätze den Beruf des Intendanten nicht, also laufe ich auch nicht Gefahr, in irgendwelche Extremzustände zu geraten. Eigentlich bin ich ganz froh, dass mir das Leben die Möglichkeit gegeben hat, das zu tun, was ich wirklich tun möchte. 

Variieren wir ein wenig den ­Titel der Story: Welche Produktionen würden Sie unseren BÜHNE-Leser:innen empfehlen?

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Das ist eine Frage, die ich so gar nicht beantworten kann. Wenn wir jetzt bei der Oper beginnen, da gibt es einige große und großartige Titel und Konstellationen, zwei davon konnte man im letzten Jahr schon erleben: „Elektra“ in der Regie von Krzysztof Warlikowski und unter dem Dirigat von Franz Welser-Möst und dann diese herrliche, von Christof Loy inszenierte „Così fan tutte“ mit Joana Mallwitz als Dirigentin. Was jetzt neu dazukommt, ist „Don Giovanni“ und „Intolleranza“ von Luigi Nono. Das sind zwei für mich sehr wichtige Produktionen.

„Castellucci ist in der Lage, dem Kunstwerk sein Geheimnis, seine Aura zurückzugeben", sagt Markus Hinterhäuser.

Foto: SF/Anne Zeuner

Dann starten wir gleich mit „Don ­Giovanni“: Sie lassen bei der Produktion Teodor ­Currentzis gemeinsam mit ­Romeo Castellucci auf das Werk los. Spannend.

Das wird ein sehr anspruchsvoller „Don Giovanni“, vielleicht eher eine Reflexion über den Mythos „Don Giovanni“, eine Reflexion über den Körper, über die Religion, über die Existenz, die Einsamkeit, die Obsession. Vielleicht wird dieser Aspekt das Wesentliche in der Inszenierung von ­Romeo Castellucci sein. Und er trifft sich da mit Teodor Currentzis. Das ist ein kontinuierlicher und jetzt schon viele Monate andauernder Prozess des Austauschs, des Hinwerfens von Ideen, des Zurückwerfens von Modifikationen dieser Ideen. Es ist ein sehr interessanter und ungewöhnlicher Vorgang, der da stattfindet. Und ungewöhnlich wird auch die Herangehensweise an „Don Giovanni“.

Können Sie uns darüber schon mehr erzählen?

Ich habe gestern Abend Franz Welser-­Möst getroffen, wir haben über „Don Giovanni“ gesprochen, und wir waren uns sehr einig darin, dass alle Aufführungen des „Don Giovanni“, die wir gesehen haben, Annäherungen waren. In großen Kunstwerken eine gültige, ­finale Erkenntnis zu finden wird nie möglich sein, und bei „Don Giovanni“ ist es schon ganz und gar unmöglich. 

Aber um noch einmal auf die Frage zurückzukommen: Das wird eine Arbeit sein, von der ich ahne, dass sie eine große Sprengkraft haben wird – was mich überhaupt nicht stört und auch nicht ­ängstigt –, die aber auch die Möglichkeit hat, ein ganz großes gedankliches Kunstwerk zu werden.

Ich selbst bin Fan von ­Castellucci, habe aber schon mehrfach das Theater nach einer seiner Auf­führungen verlassen und mich ­gefragt, ob ich gerade zu blöd war, um das Gesehene zu verstehen …

Die Frage des Verstehens ist eine sehr ­relative Frage. Wir sind immer darauf aus, alles verstehen zu wollen, alles verstehen zu müssen. Wir leben in einer Welt, die immer geheimnisloser wird, einer Welt, in der die Wissenschaft ohne­hin alles decodieren wird. In großen Kunstwerken liegt aber immer ein Geheimnis. Und Castellucci ist in der Lage, dem Kunstwerk sein Geheimnis, seine Aura zurückzugeben. 

Interessant ist eine Provokation, und zwar im etymologischen Sinn. Provokation im strategischen Sinn ist nur einfältig, langweilig und durchschaubar. Aber eine Provokation im etymologischen Sinne, etwas Ungeahntes im Zuschauer hervorzurufen, etwas, was vielleicht so oder in dieser Radikalität noch nie erfahrbar gemacht wurde – viel mehr geht nicht. Radikalität heißt ja, an die Wurzeln eines Mythos zu gehen. 

Castelluccis Arbeiten sind die Antithese zu einer vollkommen geheimnis­losen Welt, einer Welt, die dabei ist, jede metaphysische Qualität zu ­verlieren. ­Romeo Castellucci hat eben diese Fähig­keit – vielleicht ganz im Sinne Luigi ­Nonos, „das Ohr aufzuwecken, die Augen, das menschliche Denken“. Für die Ohren ist in dieser Produktion Teodor Currentzis „zuständig“. In der Typologie ganz anders und doch Romeo Castellucci nicht unähnlich. Wir werden sehen, was da entsteht … (Grinst.)

Ich halte fürs Protokoll fest: ­Hinterhäuser freut sich gerade diebisch und will nicht mehr ­verraten. Dann zu Luigi Nono und „Intolleranza“ …

Dieses Werk jetzt aufzuführen halte ich für ganz wesentlich. „Intolleranza“ ist ein Aufschrei für die Würde des Menschen, für die Menschenrechte, für Gerechtigkeit. Toleranz, Intoleranz, was heißt das eigentlich heute? Wo bewegen wir uns hin? Es ist vielleicht das Stück der Stunde, obwohl es in den 1960er-Jahren entstanden ist. Das gehört zum Wesen von großen Kunstwerken, dass man diese Partituren – die Jahrzehnte alt sind und in Stein gemeißelt scheinen – belebt, durch permanente Befragung, Wieder­befragung und manchmal auch durch einen Wechsel der Perspektive. Das ist es, worauf es ankommt.

Luigi Nono beschäftigte sich mit nichts weniger als der Conditio humana.

Ja. Und das ist groß, das ist wirklich groß, und das wird auch niemals an Größe verlieren. Vielleicht wird man auch Zeiten haben, in denen man sich woandershin orientiert, aber man wird zu diesem ­Kerngedanken immer wieder zurückkehren.

Können Sie zu dieser Produktion ein wenig mehr sagen?

Nein, kann ich nicht. (Grinst.) Und selbst wenn ich könnte, würde ich es nicht tun. Man ist immer wieder verführt, Dinge preiszugeben, eine Art von manchmal auch manipulativem Vorkommentar zu machen – aber das Entscheidende ist die Aufführung, das ganz unmittelbare Erleben. 

Das ist das Interessante, nicht nur bei Luigi Nono, sondern bei der Musik überhaupt. Wir alle hören vermeintlich die gleiche Musik, aber in Wahrheit hört jeder seine eigene Musik. Menschen finden sich an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit zusammen, um eine Symphonie von Mahler oder die „Winterreise“ von Schubert zu hören. Es scheint ja tatsächlich für jeden die gleiche Musik zu sein – es ist aber nicht so. Und doch entsteht in diesem sehr persönlichen, ja intimen Zuhören eine Gemeinschaft, und das ist ein unglaublich kostbarer Vorgang.

Gerade bei Musik, wie sie Nono macht, verliere ich im Hören manches Mal die Spur und finde aber immer wieder zurück. Das geht aber nur, wenn ich sie live höre.

Man kann tatsächlich das eine oder andere Mal beim Hören aus der Spur kommen. Aber die großen, entscheidenden, die wesentlichen Kunstwerke – und dazu gehört Luigi Nonos „Intolleranza“ – geben uns die Möglichkeit nachzudenken, die Möglichkeit, uns zu lesen. Wir blicken gleichsam in Mikroskope, die uns die Geografie unserer Existenz erkennen lassen: wer wir sind, warum wir sind, ­woher wir kommen und wohin wir möglicherweise gehen. Große Kunstwerke geben uns auch die Möglichkeit loszulassen, uns gehen zu lassen, uns treiben zu lassen und wieder zurückzu­finden in die Spur. 

Verena Altenberger und Lars Eidinger beim Probenbeginn für den „Jedermann".

Foto: SF/Anne Zeuner

So. Das waren jetzt einmal zwei Musiktipps. Was gibt es noch in Salzburg, was wir sehen sollten – vor allem am Schauspielsektor?

Wir zeigen eine „Maria Stuart“ in der Regie von Martin Kušej und mit einer fantastischen Besetzung. Es ist wunderbar, dass Lars Eidinger den Jedermann spielt. Es wird eine große Auseinander­setzung mit Shakespeare geben und ein herrliches, sehr selten aufgeführtes Stück von Hofmannsthal: „Das Bergwerk zu Falun“ …

Wir sind also doch noch beim „­Jedermann“ gelandet. Geht es ­Ihnen eigentlich auf die Nerven, dass Salzburg oft auf den „Jedermann“ und die Society-Berichterstattung darüber reduziert wird?

Ja, es geht mir manchmal auf die Nerven, das würde ich gar nicht verneinen. Aber auf der anderen Seite soll man das auch irgendwie in einer richtigen Statik sehen. Es gibt hier ein so heterogenes Publikum, so viele interessierte Menschen, so viel Empathie, Zuneigung, Neugier und Offenheit für das, was wir machen. Es ist ja nicht so, dass wir vor leeren Häusern spielen und nur der Domplatz brechend voll ist. (Lacht.) Ich lade Menschen ein, nach Salzburg zu kommen, ich lade Menschen ein, zu den Salzburger Festspielen zu kommen, und ich möchte, dass diese Menschen es in vielfacher Hinsicht gut haben. 

Der größte Respekt, den man einem Publikum entgegenbringen kann, ist, es aufrichtig zu fordern – mit Herz und Hirn. Diese Forderung müssen wir stellen, und wir müssen klarmachen, dass die Festspiele ein Festspiel der Künste sind und nicht eine beliebige Aneinanderreihung von manchmal geglückten und manchmal auch weniger geglückten Veranstaltungen. Dem Ganzen sollte auch eine Art von gedanklichem Navigationssystem zugrunde liegen. 

Als Intendant bin ich ja vielleicht so etwas wie ein Navigator durch einen Festspielsommer. Ein Publikum zu beurteilen oder gar zu verurteilen, das kann ich nicht, das tue ich nicht, das gehört sich nicht. Mir ist jeder willkommen.

Was wäre eine schöne letzte Frage, die Sie sich selber stellen würden?

Keine Ahnung. Lass mich nachdenken. Vielleicht: „Wann hören Sie endlich auf zu quatschen, Herr Hinterhäuser?“ (Lacht.)

Das würden wir niemals wagen … Danke für das Gespräch.

Foto: Franz Neumayr

Zur Person: Markus Hinterhäuser

Geboren in La Spezia, Studium in Wien und Salzburg. Er ist ein begnadeter Pianist und brillanter Vermittler von Kultur. Er ist seit 2017 Intendant der Festspiele, und sein Vertrag wurde bis 2026 verlängert. Von 2014 bis 2016 leitete er die Wiener Festwochen.

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