Mit Grenzen kann Simone Menezes wenig anfangen. Das zeigt sich nicht nur in ihrem musikalischen Schaffen, sondern auch in persönlichen Zuschreibungen. Sie wird wegen ihrer Wurzeln meist als brasilianisch-italienisch bezeichnet, fühlt sich aber am ehesten in Paris, wo sie seit Jahren lebt, heimisch. „Eigentlich habe ich aber das Gefühl, gar keine Heimat zu haben“, erklärt sie im Interview, das sie anlässlich eines Konzerts, welches sie im September in Wien leitete, gab. „Ich versuche vielmehr, jede Stadt, in der ich bin, zu verstehen, sie künstlerisch zu erforschen, mit den Menschen in Verbindung zu treten. Das empfinde ich als Privileg, weil es mir ermöglicht, an jedem Ort das Beste zu entdecken. Außerdem hat man auch innerhalb eines Landes Präferenzen. Ich mag zum Beispiel die Geschichte Brasiliens, den Lebensstil der Franzosen und deutsche Musik.“

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Ihr Auftritt im Wiener Konzerthaus geschah auf Einladung des Hauses Cartier, mit dem die Dirigentin seit 2019 eng zusammenarbeitet. Das anspruchsvolle Programm spiegelte wider, was Simone Menezes seit jeher propagiert: den Austausch von Klassik und Moderne. Zu hören waren das Prèludio der „Bachianas Brasileiras Nr.4“ des zeitgenössischen brasilianischen Komponisten Heitor Villa-Lobos, das Konzert in C-Dur für Klavier, Violine und Violoncello von Ludwig van Beethoven sowie die 3. Symphonie von Louise Farrenc, einer lange Zeit in Vergessenheit geratenen Komponistin der Zeit Beethovens, an deren Wiederentdeckung Simone Menezes großen Anteil hat und der sie nun zu ihrem Wien-Debüt verhalf. Neben Musiker*innen des Wiener Kammerorchesters spielten Solist*innen des von ihr gegründeten Ensembles „K“. Eigene Orchester zu formieren ist für Simone Menezes – ausgebildet in Brasilien und an der École Normale de Musique de Paris – nichts Außergewöhnliches, seit sie im Alter von zwanzig Jahren die Camerata Latino Americana ins Leben rief. Und das hatte gute Gründe.

Simone Menezes mit dem Wiener Kammerorchester
Arbeitsplatz Orchestergraben. Simone Menezes mit dem Wiener Kammerorchester und Solist*innen des Ensembles „K“ im Konzerthaus. „Wenn ich in Wien dirigiere, muss das Programm für diese Stadt Sinn ergeben.“ Selbiges gilt für alle ihre Auftritte.

Foto: Patrick Wack

Widerstände überwinden

„Ich wusste schon mit sieben Jahren, dass ich Musikerin werden will, und habe bereits mit 15 einen Chor dirigiert. Für mich war das ganz natürlich. Ich habe mir nie überlegt, ob ich das ‚Recht‘ dazu hätte. Erst später habe ich gemerkt, dass man mir dieses ‚Recht‘ tatsächlich absprechen
wollte, weil ich eine Frau bin. Als ich vor mehr als 15 Jahren als professionelle Dirigentin begonnen habe, wurden Frauen oftmals nicht von Orchestern eingeladen. Also habe ich mein eigenes gegründet.“

Mittlerweile hätte sich die Situation zwar verbessert, „aber der Prozess verläuft langsamer, als es wünschenswert wäre“.

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Sie wisse, dass sie besser sein müsse als männliche Kollegen, meint sie ohne Häme. Sieht sie sich als Chefin oder Teamplayerin? Simone Menezes lacht. „Das hängt wirklich vom jeweiligen Land und dessen Kultur ab. Wenn du in Europa eine gute Beziehung zum Orchester haben willst, musst du den Musikern direkt in die Augen schauen, um Vertrauen herzustellen. Wenn ich das in Japan mache, schauen die Leute weg. Die russische Kultur ist sehr direkt, in Frankreich kann man hingegen nicht so fordernd sein. Man muss als Dirigentin auch psychologische Fähigkeiten haben, um das beste Ergebnis zu erzielen.“ Und weil Dirigieren Hochleistungssport ist, muss sie auch körperlich fit sein. „Ich ernähre mich angemessen, trinke keinen Alkohol, nehme keinen Zucker zu mir. Bei Stress hilft es, sich 40 Minuten hinzulegen. das bringt einem Energie.“

Persönlichkeit entscheidet

Simone Menezes ging auch in der Auswahl der Musiker*innen für ihr Ensemble „K“ ungewöhnliche Wege. „Mein Ziel war es, 15 Persönlichkeiten, die miteinander harmonieren, zu finden. Üblicherweise versuchen Orchester, über Wettbewerbe die Besten ihres Fachs zu bekommen, was oft zur Folge hat, dass die Charaktere nicht zusammenpassen. Ich sehe das eher wie bei einem Fußballteam, mir ist es wichtig, zum Beispiel einen eher erfahrenen Musiker mit einem jungen zusammenbringen, um eine ausgewogene Energie zu gewährleisten.

Für einzelne Projekte laden wir manchmal auch Gastmusiker*innen ein.“ „K“ begleitete die Visionärin auch bei ihrem ebenfalls von Cartier geförderten multimedialen Projekt „Metanoia“, in dem sie sich auf CD und in Konzerten musikalisch mit dem Begriff der Transzendenz auseinandersetzt. Im soeben herausgebrachten gleichnamigen Film kommen auch der Maler Michael Triegel, der Philosoph Alberto Cavalli und der Dirigent Antonio Pappano zu Wort, die u.a. über Schönheit und die Bedeutung von Körper und Seele philosophieren. Für die Zukunft klassischer Musik hat Simone Menezes noch einen Tipp parat: „Die Hörgewohnheiten haben sich verändert. Junge Leute sind musikinteressiert, aber ein 45-minütiges Bruckner-Konzert dauert ihnen einfach zu lang.“ Und darauf müsse man eingehen.„Ich bereite gerade ‚Scheherazade‘ von Rimski-Korsakow vor. Vier Sätze à 10 Minuten. Darin sehe ich eine Chance.“