Dostojewski tut weh. Immer noch. Seine Bücher sind Nägel im Fleisch. „Weh spricht: Vergeh!“, heißt es in Nietzsches Gedicht „Das trunkene Lied“ aus dem „Zarathustra“ – bei Dostojewski vergeht das Weh nie. Den größten Schmerz aber bereitet ein schmaler Traktat aus dem Riesenroman „Die Brüder Karamasow“, der unter dem Titel „Der Großinquisitor“ in die Literaturgeschichte einging.

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Iwan Karamasow erzählt seinem jüngeren Bruder Aljoscha eine Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, in Spanien soll sie sich zugetragen haben. Am Morgen nach einer grauenhaften Nacht, in der hunderte Ketzer vor der Kathedrale von Sevilla verbrannt wurden, geht Jesus über den Platz, sein Gesicht unendlich traurig. Jeder erkennt ihn. Die Menschen drängen sich um ihn, er möge heilen, und er tut es. Der Lahme kann gehen, der Blinde kann sehen, ein kleines Mädchen steht von den Toten auf. Der Großinquisitor der katholischen Kirche, der Verantwortliche für das Morden, lässt Jesus verhaften. Im Kerker verhört er ihn. Nein, er verhört ihn nicht. Er redet. Nur er redet. Er nimmt gleich zu Beginn Jesus das Wort. „Warum bist du gekommen?“ Es gebe dem Wort, das er vor tausendfünfhundert Jahren gepredigt habe, nichts hinzuzufügen. Sie, die Männer der Kirche, hätten seine Lehre weiterentwickelt, „verbessert“. In Wahrheit haben sie seine Lehre pervertiert, auf den Kopf gestellt, in ihr Gegenteil verkehrt. Dass diese „Umwertung aller Werte“ – um noch einmal einen Begriff von Nietzsche zu verwenden – in Wahrheit die konsequente Anwendung seiner Lehre sei, das versucht der Großinquisitor im Folgenden Jesus zu erklären. Sein Hauptargument lautet: Der Mensch – der normale, schwache, nicht sonderlich intelligente, nicht sonderlich gebildete Mensch – ist nicht stark genug, die Freiheit seines Gewissens, die ihm die christliche Lehre schenkt, zu ertragen. Vor die freie Entscheidung zwischen Gut und Böse gestellt, muss er versagen. Sein Versagen aber erzeugt ein schlechtes Gewissen. Das schlechte Gewissen wiederum erzeugt Hass. Die wahre Befreiung des Menschen, so der Großinquisitor, besteht darin, ihm das Gewissen abzunehmen. Die Institution der Kirche hat diese Rolle übernommen. Der Großinquisitor verspricht Jesus, er werde ihn morgen auf dem Scheiterhaufen verbrennen als den schlimmsten aller Ketzer und die, die ihm heute zugejubelt haben, würden morgen die Kohlen herbeischleppen, die das Feuer nähren.

Dieses knapp dreißig Seiten umfassende literarische Glanzstück wurde von vielen Autoren interpretiert, von Sigmund Freud, den Anthropologen Arnold Gehlen und Helmuth Plessner, nicht zuletzt von Max Weber, dem Soziologen, Nationalökonomen und Philosophen um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Max Weber gilt als der große Antipode zu Karl Marx, der als Erster eine psychologische Komponente in die Analyse der Ökonomie einbrachte. Bezug nehmend auf den Großinquisitor, entwickelte er die Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Erstere berufe sich allein auf das individuelle Gewissen des Menschen, das sich, oftmals ohne sich darüber Rechenschaft abzulegen, auf unumstößliche Gebote und Verbote stütze – zum Beispiel: Du sollst nicht töten. Die Verantwortungsethik dagegen rechne in ihr Urteil die Folgen desselben mit ein, ja, leite sich hauptsächlich aus der Analyse der Folgen ab. Aktuelles Beispiel: Sollen wir der Ukraine Waffen liefern, auch wenn dadurch das fünfte mosaische Gebot gebrochen wird, eben weil wir damit rechnen, dass der Aggressor bei einem eventuellen Sieg auch andere Länder angreifen wird und wir somit für weiteres Blutvergießen die Verantwortung tragen? Diese und ähnliche Fragen zu beantworten fällt vielen Menschen schwer. Wenn gesagt wird, die Politik muss ein Gleichgewicht schaffen zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik, dann klingt das gut, aber ich habe noch niemanden getroffen, der mir sagen konnte, wie das konkret auf elegante Weise gehen soll. Heraus kommt in den meisten Fällen ein langwieriges, unattraktives Gewurstel – ich möchte das Hohelied dieses Gewurstels singen.

Für die großen politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist der heilige Gedanke der Aufklärung vielleicht auch mitverantwortlich.

Michael Köhlmeier, Schriftsteller

Dostojewski wollte mit seinem Großinquisitor gegen die Idee desselben anschreiben. Er sah in dem alten kalten Mann die Verkörperung der katholischen Kirche, die sich seiner Meinung nach spätestens seit der Pippinischen Schenkung dem Teufel verschrieben hatte – der im Text „der große Geist“ genannt wird. Im 8. Jahrhundert überschrieb Pippin III., König von Franken und Vater von Karl dem Großen, Rom und weitere Landstriche in Italien dem Papst, woraus später der Kirchenstaat und noch später der Vatikan wurde. Spätestens seit damals, so Dostojewski, mischte die Kirche in der europäischen Politik maßgeblich mit – und vergaß oder verzichtete auf ihr Gewissen. Allerdings, so die Interpretation mancher Autoren, sei dem Dichter seine Figur zu gut gelungen. Jesus sitzt stumm vor dem Inquisitor. Warum? Am Ende küsst er den Widersacher auf die blutleeren Lippen. Das verwirrt den bösen Geist. Es ist eine Geste, eine bemerkenswerte Geste, aber kein Argument. Auf rationalem Feld ist der Großinquisitor nicht zu schlagen. Wir lesen den Text mit Beklemmung: Der Mensch, so der Tenor des Bösen, ist nicht für die Freiheit geschaffen. Er leidet unter der Freiheit. Sie ist kein hehres Versprechen, sie ist ein Fluch. Vor die Entscheidung zwischen Gut und Böse gestellt, versagt er. Nur wenige sind stark und selbstbewusst genug, sich aus freien Stücken für das Gute zu entscheiden. Der Großinquisitor wirft Jesus vor, er habe die Schwachen, die Feigen, die Müden, die Dummen, die Ängstlichen, die Desinteressierten, die Untalentierten vergessen. Aber sie sind die Mehrheit. Die Millionen wollen nicht nur geführt werden, sie müssen geführt werden. Sonst gehen sie unter in einem Blutbad.

Der Visionär Dostojewski und der Visionär Max Weber, sie haben das Zeitalter der faschistischen und kommunistischen Gewaltherrscher vorhergesehen. Und was absurd und bösartig verlogen klingt, könnte doch wahr sein: Für die großen politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist der heilige Gedanke der Aufklärung vielleicht auch mitverantwortlich.

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Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou