„Ein bescheidenerer Vorschlag“ ist nicht nur ein veritabler Zungenbrecher, der selbst versierten Sprecher*innen ihre Grenzen aufzeigt, sondern auch der Name eines mit einem NESTROY bedachten Theaterstücks, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, sämtliche in unserer Gesellschaft verankerte Tabus zu brechen. Geschrieben und inszeniert wurde der Zungen- und Tabubrecher von Thomas Toppler und Hannelore Schmid, die sich dafür vom hierzulande noch weitgehend unbekannten französischen Bouffon-Theater inspirieren ließen. „So ein Ensemble haben Wiens Bühnen noch nicht erlebt: Sie sind dreckig, sie haben dick ausgestopfte Brüste und Hintern, große Zahnlücken und einen herben Spruch“, hieß es in der Begründung der NESTROY-Jury. Seit der Auszeichnung im vergangenen Herbst ist viel passiert: Nach mehreren Aufführungen im TAG, das das Stück mitproduzierte, tourte die Truppe durch Österreich. Vorerst letzter Tourstopp ist das Hin & Weg Theaterfestival in Litschau.

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Was tun diese Bouffons eigentlich?

Weil das Stück drei unterschiedliche Handlungsebenen miteinander verschränkt, ist eine in wenigen Sätzen auf den Punkt gebrachte Zusammenfassung in etwa genauso einfach wie das Adjektiv „bescheidenerer“ ohne Momente des Stockens auszusprechen. Wir probieren es trotzdem, möchten aber zunächst mit einer Begriffsbestimmung starten: Als Bouffons wurden im Mittelalter Menschen bezeichnet, die körperlich und geistig von der Norm abwichen und deshalb auf Jahrmarktsbühnen verlacht wurden. Das sogenannte Bouffon-Theater knüpft genau daran an, bezieht sich aber auch auf die aus der Commedia dell’arte bekannte Figur „Pulcinella“. Als Theaterform wurde das Bouffon Theater vor allem von Philippe Gaulier, Meisterclown und Gründer der weltbekannten École Philippe Gaulier, geprägt.   

Im Stück von Thomas Toppler, der bei Philippe Gaulier studierte, und Hannelore Schmid, die 2016 einen Bouffon-Workshop bei Toppler besuchte, möchte eine aus fünf Mitgliedern bestehende Bouffon-Truppe Shakespeare aufführen. Die Kompanie hat jedoch eine Klage am Hals, weil sie – anknüpfend an einen satirischen Essay Jonathan Swifts, der die Idee enthält, dem Hunger in Irland entgegenzuwirken, indem man die Kinder von Armen als Nahrungsmittel einsetzt – einen noch bescheideneren Vorschlag eingebracht hat. Aber auch gruppenintern gibt es Probleme, weil ein Mitglied das österreichische Asylverfahren durchläuft und dabei am eigenen grotesken Leib erfährt, was es heißt, wenn sich einem die vier Staatsgewalten in den Weg stellen. Die vier restlichen Bouffons, die auch die Rollen von Legislative, Judikative, Exekutive und Medien einnehmen, versuchen einander zu demontieren und zeigen dadurch die Hässlichkeit eines nur scheinbar funktionierenden Systems auf. Am Ende wird die Klage gegen die Bouffons fallengelassen, weil ihr bescheidenerer Vorschlag der Regierung durchaus entgegenkommt.

Ein bescheidenerer Vorschlag
Die Bouffon-Truppe im TAG.

Foto: Stefan Panfili

Grenzen suchen und ausloten

Was in dieser komprimierten Form unglaublich komplex klingt, ist in Wahrheit ein großer Spaß. Allerdings einer, bei dem einem als Zuschauer*in das Lachen hin und wieder im Hals stecken bleibt. „Weil man sich ertappt fühlt und dadurch eine Form von Selbstreflexion einsetzt“, erklärt Hannelore Schmid. „Humor schafft Distanz, auch zu sich selbst, hat gleichzeitig aber auch etwas Verbindendes. Da wir in dem Stück sehr harte Themen behandeln, hilft der Humor, sich diesen Themen zu nähern. Das ist die Diskrepanz, die in dieser Produktion steckt. Einerseits wird sie als Inszenierung wahrgenommen, die gute Laune bringt, andererseits enthält sie all diese harten Themen, von denen sich die Zuschauer*innen am Ende aber auch berühren lassen.“

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Humor schafft Distanz, auch zu sich selbst, hat gleichzeitig aber auch etwas Verbindendes.

Hannelore Schmid

Die Frage, wie weit man gehen kann, hat die beiden ebenso beschäftigt wie die Diskussion darüber, über wen man sich eigentlich lustig machen möchte. „Wir haben uns zunächst die Frage gestellt, wer an der Macht sitzt, wer eigentlich die Möglichkeit hat, Dinge zu verändern. Um anschließend zu schauen, wen man kritisieren möchte“, bringt es Thomas Toppler auf den Punkt. Er setzt fort: „Uns war es wichtig, dem Theaterpublikum, das in der Regel ja ein eher aufgeklärtes, politisch linkes Publikum ist, zu zeigen, dass sie auch nur Menschen sind – dass sie gewisse Dinge internalisiert haben oder mittragen. Wenn man diese Punkte trifft, lachen die Leute, bemerken gleichzeitig aber, dass sie bei vielen Dingen auch nur Teil des Systems sind.“

„Wie viel wir uns trauen möchten, wo unsere Grenzen sind und an welchen Stellen wir diese vielleicht auch überschreiten können, ist eine Sache, die uns während des gesamten Schreib- und Probenprozesses begleitet hat“, hält Hannelore Schmid fest. „Tatsächlich war das auch schon bei der historischen Figur des Bouffon so – ging er zu weit, wurde er getötet“, fügt sie lachend hinzu. Schmid, die 2018 gemeinsam mit ihrem Vater den Verein Herminentheater gegründet hat, zu dem Toppler 2020 dazustieß, merkt außerdem an, dass es auch für die Spieler*innen nicht immer leicht war, ihre Grenzen klar abzustecken. „Es war nicht einfach, Menschen zu finden, die mit dieser Art von Humor umgehen können. Zudem muss diese Lust an der Hässlichkeit gegeben sein. Gerade zu stereotyp weiblichem Verhalten erzogenen Menschen wird in ihrer Erziehung oft das Gefühl gegeben, dass auf der Bühne gar nicht hässlich sein dürfen.“

Weil Kasperl oder Hanswurst, die sich ebenfalls aus der Pulcinella-Figure entwickelten, irgendwann aus der deutschsprachigen Literatur verbannt wurden, gebe es in der Schauspielausbildung auch kaum Berührungspunkte mit dieser Art von Figur, hält Thomas Toppler daran anknüpfend fest. Anders als in Frankreich und England, wo Toppler mit „Ship of Fools“ eine eigene Theaterkompanie gründete, wäre Physical Comedy im deutschsprachigen Raum nicht wirklich in der Ausbildung verankert. Umso spannender sei es gewesen, Menschen zu finden, die sich dieser Theaterform annähern und hingeben möchten, so Toppler.

Ein bescheidenerer Vorschlag
Das Ensemble von „Ein bescheidenerer Vorschlag“: Ambra Berger, Peter Bocek, Ida Golda, Kristóf Szimán, Thomas Toppler.

Foto: Michael Strasser

Nächstes Bouffon-Stück zum Thema Pflege

Außerdem sei es total spannend gewesen, zu sehen, wie sich das Stück im Laufe der Zeit entwickelt, erzählt Toppler, der klassisches Schlagwerk studiert hat und neben der Theaterarbeit mit seiner Band „The Erlkings“ unterwegs ist. „Aufgrund mehrerer Coronafälle im Ensemble war die Premiere auch der allererste Durchlauf vor Publikum. Dementsprechend war bei der ersten Vorstellung das Vertrauen in das Stück noch nicht so gegeben. Je sicherer die Spieler*innen geworden sind, desto mehr Momente gab es, in denen ihnen Worte rausgerutscht sind, die aber total zum jeweiligen Charakter gepasst haben. Auch nach den Vorstellungen gab es immer wieder neue Ideen dazu, wie man einzelne Stellen noch schärfer machen könnte“, erinnert sich der Theatermacher und Musiker.

Noch ein wenig schärfer soll auch das nächste Stück des Herminentheaters werden, das in Koproduktion mit dem TAG im Mai 2024 ebendort auf die Bühne kommt. In mehreren Handlungssträngen wird es um das Thema Pflege gehen. „Wir möchten bei diesem Thema noch klarer und härter werden, gleichzeitig aber auch Melancholie zulassen und nicht nur schärfer, sondern auch sensibler an die Themen herangehen“, bringt es Hannelore Schmid auf den Punkt. Außerdem war es den beiden Theatermacher*innen ein großes Anliegen, wieder mit denselben Spieler*innen zusammenzuarbeiten.

Während der Probenarbeit wurde mir vom Ensemble immer wieder die folgende Frage gestellt Wann machst du denn eigentlich Regie, Thomas?

Thomas Toppler

Oder anders formuliert: die begonnene Komplizenschaft fortführen. Ein Stück als Kollektiv zu erarbeiten sei nämlich auch etwas, das er aus Paris mitgenommen hat, erzählt Thomas Toppler. „Die Kollektivarbeit, wie ich sie kennengelernt habe, ist eine andere als die Regiearbeit, wie sie im deutschsprachigen Raum verbreitet ist. Während der Probenarbeit wurde mir vom Ensemble immer wieder die folgende Frage gestellt: Wann machst du denn eigentlich Regie, Thomas? Worauf ich jedes Mal geantwortet habe, dass ich das ja eh tue.“ Toppler lacht und ergänzt: „Konkret sieht das so aus, dass wir uns treffen, zu einem Lied tanzen und dann eine halbe Stunde lang Spiele spielen. Spiele sind für mich auch ein Tool, um Szenen zu finden. Weil ich es nicht als meine Aufgabe betrachte, jemandem zu sagen, wie er dort rüber gehen soll, sondern ich den Spieler oder die Spielerin frage, wie sie dort rüber gehen würde. Wir entdecken Dinge gemeinsam.“

Scheitern als integraler Bestandteil

Damit geht auch einher, dass Scheitern als etwas Fröhliches und Positives begriffen wird. „Und nur durch Scheitern – da gibt es dieses schöne Wort Serendipität – findet man Dinge, nach denen man gar nicht gesucht hat. Das bedeutet auch, dass durch vermeintliche Fehler Neues entstehen kann – und im besten Fall auch Lustiges.“ Dadurch hätte sich auch der Text immer wieder verändert und verbessert, fügt Hannelore Schmid hinzu. „Letztendlich geht es darum, seine Menschlichkeit zu zeigen, die auch darin liegt, nicht perfekt zu sein, weil wir Menschen nun einmal nicht perfekt sind“, schließt Thomas Toppler unser Gespräch ab.

Eines noch: Menschlich ist es auch, an dem Wort „bescheidenerer“ zu scheitern. Und auch dafür braucht man sich nicht zu schämen, sondern kann auch diese Art des Stolperns getrost abfeiern. In diesem Sinne: Sprechen Sie „Ein bescheidenerer Vorschlag“ nicht nur aus, sondern sehen Sie sich diese Produktion ruhig auch an. Geht es nach Thomas Toppler und Hannelore Schmid, ist das Hin & Weg Theaterfestival in Litschau nämlich bestimmt nicht der letzte Stopp auf der Bouffon-Tour.