Entschleunigung durch Wandern
Stress und Tempo nehmen zu. Ein beschleunigter Alltag und rasant getaktete Arbeitswelten prägen unsere Gesellschaft. Alles wird schneller. Effizienter. Digitaler. Der Leistungsdruck steigt.
Rezepte für den notwendigen Ausgleich gibt es viele. Aber keines ist meiner Erfahrung nach so wirksam wie das Wandern. Wandern bedeutet nicht nur Bewegung, sondern ist eine »Gegen-Bewegung« im besten Sinn. Sie schafft einen Ausgleich zur »Generation Highspeed«. Wandern folgt einem anderen Zeitmaß. Sein entschleunigter Rhythmus ermöglicht es, sich buchstäblich wieder zu »be-Sinnen«. Es taugt als Instrument zur Rückbesinnung – zum Entdecken und Erforschen. Man nähert sich Schritt für Schritt sich selbst und anderen Menschen, fremden Kulturen und faszinierenden Landschaften. Und das in einen Rhythmus, der dem Geist und Körper angemessen ist. Alle Sinne sind miteinbezogen: Das Sehen, Riechen, Fühlen, Hören, die Wahrnehmung des Raums, den man mit seinem Körper durchmisst. Das Gehen ermöglicht, wieder mit sich selbst in Kontakt zu kommen. Nirgends kann ich mir selbst intensiver begegnen als beim Alleinsein in den Bergen. Nirgends finde ich besser zu mir. Diese Tiefe der Erfahrung funktioniert aber auch in Gesellschaft. Beim Wandern entstehen fast immer besonders gute, intensive Gespräche.
Ankommen: Wo wir sind ist oben
Ist schließlich das Ziel erreicht – oben auf dem Gipfel oder unten in der Hütte – , überkommt einen das Gefühl der Freude über den Erfolg. Oben anzukommen, bringt einen Perspektivenwechsel mit sich. Durch die Weite der Landschaft und das Hinunterschauen auf die winzigen Dinge im Tal relativiert sich vieles. Problemberge schrumpfen im Nu zu Alltagszwergen. Der Kopf wird frei. Beim Wandern passieren all jene Dinge wie von selbst und auf eine ganz einfache Weise, die unter dem heute sehr populär gewordenen Begriff »Achtsamkeit« propagiert werden. Wer wandert, erhöht die Detailschärfe und vertieft seinen Blick auf die Welt um sich. Das Tempo bestimmt die Wahrnehmung. Das Staunen über eine leuchtend schöne Blume am Wegesrand, das Berührtwerden von einer reizvollen Landschaft, von verzaubernden Licht- und Wolkenstimmungen oder einem magischen Sonnenaufgang über den Bergen, das Genießen der kristallklaren Luft, das Eintauchen in das Rauschen eines Wasserfalls oder Bachs – allesamt Eindrücke und Erfahrungen, die der Langsamkeit des Gehens geschuldet sind. Das Ankommen in der Gegenwart und das unmittelbare Erleben des Moments begleiten einen buchstäblich auf Schritt und Tritt.
Sich öffnen durch gehen
Der französische Soziologe David Le Breton hat recht, wenn er attestiert, dass »das Gehen eine Öffnung zur Welt« sei und man vom Wandern manchmal verändert zurückkehrt – »eher geneigt, die Zeit zu genießen, als sich den maßgebenden Dringlichkeiten unseres zeitgenössischen Daseins zu unterwerfen«. Ja, Wandern ist langweilig! – Im Sinne einer »längeren Weile« im Hier und Jetzt sein. Als Wandernde:r ist man Regisseur:in und Hauptdarsteller:in seines eigenen Naturfilms. Man bestimmt Kulisse und Drehbuch und auch den Anteil an Actionszenen. Wandern ist mal Heimatfilm, mal Abenteuerstreifen, mal Familienunterhaltung – und immer ein wunderbarer Genre-Mix. Während einer Wanderung füllt sich der Rucksack und ist am Ende voll mit berührenden Momentaufnahmen. Dagegen sieht jede Netflixserie alt aus. »Die erhabene Sprache der Natur lernt nur der Wanderer kennen«, beschrieb Johann Wolfgang von Goethe das »Landschaftskino« Wandern treffend. Die gute Nachricht: Wandern ist keine Raketenwissenschaft. Es braucht weder große theoretische Kenntnisse noch hartes Training. Das Unspektakuläre des Wanderns ist auch sein unschlagbarer Vorteil. Und wer seinen Körper bewegt, hält auch seinen Geist in Bewegung. Die Gedanken werden kreativ und konstruktiv und kommen in neue Bahnen. Heute weiß man, dass Aristoteles seine Vorlesungen vorzugsweise im Gehen abgehalten haben soll. Seine philosophische Schule »Peripatos« heißt übersetzt »Spaziergang« beziehungsweise »Wandelhalle«. Aber auch für alle anderen gilt, dass Wege im Gehen entstehen – im besten Fall auch neue Gedankengänge.
Die Freiheit der Wahl
Der Versuch, neue Wege zu gehen, soll freilich nicht reiner, blinder Aktionismus sein. Es geht nicht darum, »irgendeinen« Weg zu gehen, sondern um ein zielgerichtetes Ausloten, wohin der eigene Weg gehen soll. Das ist ein dynamischer Begriff, der immer wieder neue Abzweigungen und Möglichkeiten bietet. Vielen aber ist das vertraute Unglück lieber als das große Unbekannte. »Das Leben bringt viele Umwege mit sich. Die Kunst besteht darin, dabei die Landschaft zu bewundern«, lautet eine buddhistische Weisheit. Sie trifft den Punkt. Denn um seine eigene Vision zu finden und zu verwirklichen, ist es entscheidend, immer wieder zu versuchen, die ausgetretene Spur zu verlassen und neue Wege auszuprobieren. Nur wer bereit ist, sich inspirieren zu lassen, neue Gedanken zu denken und neue Methoden zu erproben, kann seine Ziele erreichen.
»wanderwissen Kompakt« von Christian Hlade, Verlag Braumüller, um € 16,–: Mit über 50.000 Wanderkilometern in den Beinen hat Hlade einen großen Erfahrungsschatz gesammelt, den er in seinem Buch teilt. Kurzweilig und sehr informativ.
Christian Hlade: geboren 1964, ist Gründer von »Weltweitwandern«, einem auf Wanderreisen auf der ganzen Welt spezialisierten Reiseanbieter aus Graz. Nachdem der Architekt in einem abgelegenen Himalaja-Bergdorf auf 4.000 Meter eine solarbeheizte Schule errichtete, fasste er den Mut zur Gründung seines Unternehmens, das neben Wanderabenteuern auch inspirierende Begegnungen von Menschen und Kulturen anbietet. Heute zählt »Weltweitwandern« zu den bekanntesten und sozial engagiertesten Reiseveranstaltern in diesem Segment. weltweitwandern.at
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