Je länger ich mit Schauspielern zu tun habe, sei es beruflich oder in Freundschaft, desto mehr komme ich zu der Überzeugung, dass das Dar- und Verstellungsgeschäft eine der brutalsten Branchen im Kunstbereich ist. Als Oskar Werner einmal gefragt wurde, warum er so wenig in Hollywood gedreht habe, antwortete er in einem seiner letzten Interviews, das als DVD unter dem Titel „Charakter ist unser Schicksal“ erschienen ist: „Ich warte sicher nicht, dass mich jemand anruft. Ich bin doch kein Callboy!“ Jenseits des Glamours, in dessen Genuss ohnehin nur ein minimaler Prozentsatz driftet, warten Ängste, Verunsicherungen, Selbstwertdramen, Rivalitäten und oft noch immer der Machtmissbrauch seitens Regie oder Intendanz. Cholerisches Gebrüll auf Proben oder Sätze wie „Was ist mit dir? Ich seh dich nicht!“, wenn Darsteller vermeintlich nicht genug Strahlkraft besitzen, gehen heute nicht mehr so locker durch.

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Claus Peymann konnte noch eine Sou!euse, deren rote Hose ihn beim Probieren irritierte, ungeahndet nach Hause zum Umziehen schicken.

„Bevor du aus dem Fenster springst, rufst du mich an!“, bekam ein Ensemble-Mitglied eines Hauses vor Jahren zu hören, als ihm von einem neuen Direktor in einem Drei-Minuten-Gespräch die Kündigung mitgeteilt wurde. Tempi passati und gut so.

Bei Castings für Filmrollen ist es ungebrochen Usus, nicht einmal die Höflichkeit einer Absage zu bekommen. „Du verschwindest einfach in einem schwarzen Loch“, beschreibt eine Schauspielerin das Gefühl. Selbst die größten Kaliber leben in immer wiederkehrender Angst und in Selbstzweifeln, dass ihre Zeit bald abgelaufen sein könnte, neue oder designierte Intendanten einen ähnlichen Typus, wie sie selbst ihn verkörpern, ins Ensemble einschleusen könnten, das fortschreitende Alter ihnen die Rollen wegfresse und am Ende der Saison aus der Direktion der Satz kommt: „Wir haben leider im nächsten Spielplan kein passendes Stück für dich/ Sie gefunden.“

Für Frauen kommt das Alter sowieso noch immer einem viel härteren Keulenschlag gleich als für die männlichen Kollegen. Noch immer schreien die wenigsten auf, wenn Mittsechzigern Anfangsdreißigerinnen als „love interest“ zur Seite gestellt werden. Inzwischen sehen manche ja schon gar nicht mehr wie Töchter, sondern viel eher wie Enkelinnen ihrer älteren Partner aus. Noch immer scheint man in der Dramaturgie die Antennen nicht ausreichend ausgefahren zu haben, um Stoffe zu finden, die den Damen besten Alters Gelegenheit zum Blühen bieten. Dabei sitzen im Publikum vor allem Damen dieses Alters, die ihre oft widerwilligen Herren ins Theater schleppen.

Kürzlich stolperte ich beim Scrollen über Gillian Anderson, deren Londoner Blanche in Tennessee Williams’ „A Streetcar Named Desire“ atemberaubend gewesen sein muss. Sie erzählte von ihren Ängsten, die ihr bis heute, ob beim Film oder im Theater, im Nacken sitzen: „Noch immer bleibe ich misstrauisch. Noch immer bin ich dieses junge Mädchen, das glaubt, dass das alles ein Irrtum sein muss.“

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Eine Aufzeichnung der Produktion aus dem Londoner Young Vic kann man demnächst auf der Website „National Theatre Live“, wo u. a. Ralph Fiennes als Macbeth zu sehen ist, streamen. Ein Monatsabo kostet elf Euro, und man bekommt die Crème des britischen Mimenpersonals dafür. Prinzipiell wäre das auch eine knackige Idee für die Staatsbühnen, unter einem gemeinsamen Portaldach die Filetstücke ihres Programms auch dem Publikum (von mir aus zum halben Preis einer Kinokarte) in den Bundesländern zugänglich zu machen. Schwellenangst heißt die Kanaille, die es zu bekämpfen gilt. Unter allen Umständen, weil überlebenswichtig.