Trekking und Pilgern: Weitwandern im Sommer
Das Phänomen »Weitwandern« gibt es nicht erst, seit Hape Kerkeling »dann mal weg« oder Cheryl Strayed ganz »Wild« unterwegs war. Es ist damit aber zum Breitensport geworden.
Titelbild: Beim Weitwandern wird einem die eigene Unwichtigkeit wohltuend bewusst.
Die Sonne brennt vom Himmel und ich frage mich nicht zum ersten Mal, weshalb ich diesen Weg auf mich genommen habe. Ähnliche Gedanken gingen mir schon 12 Stunden vorher durch den Kopf, als ich nicht schweiß-, sondern regenüberströmt durch die Dunkelheit eines Spätjunitags meinem 85 Kilometer entfernten Ziel entgegenstolperte. Spätestens wenn sich zu unvorhergesehenen Wetterkapriolen die ersten Blasen, Ermüdungserscheinungen und psychischen Durchhänger bemerkbar machen, wird jeder und jedem klar, die oder der eine solche Unternehmung wagt, dass es sich dabei um keine Unternehmung für schwache Nerven handelt. Warum sich Tausende Menschen jedes Jahr aber dennoch aufmachen, um lange Wanderwege zu bestreiten und zu Fuß mehrere Hundert Kilometer auf sich zu nehmen? Weil Weitwandern eine Grenzerfahrung ist, die einen Schritt für Schritt näher zu sich selbst bringt und dabei einzigartige Erlebnisse garantiert, für die man im gehetzten Alltag ohnehin keine Zeit hätte.
Einkehr und Katharsis durch langes Wandern
Unterwegs merkt man, wie der Fokus klarer wird, wie so manch vermeintlich großes Problem plötzlich schrumpft und so mancher Wunsch in der Bedürfnispyramide keine Poleposition mehr einnimmt. Beim Gehen lernt man Geduld und den Luxus des Einfachen zu schätzen, man nimmt wahr, wie sich die Prioritäten verschieben. Außerdem – und so ehrlich muss man sein – ist Weitwandern eine physische Leistung, auf die man durchaus stolz sein kann. Doch wer hat’s erfunden? Die Geschichte des Wanderns ist so lang, wie die Menschheit alt ist. Denn sich über weitere Strecken zu bewegen, war eine Notwendigkeit für Jäger und Sammler, die auf der Suche nach Nahrung, Wasser und sicheren Lebensräumen immer in Bewegung waren. In der Antike wurden Pilgerreisen modern, auch militärische Expeditionen und die Erkundung neuer Gebiete erfolgten meist noch zu Fuß und per Pferd. Während im Mittelalter als Transportvehikel Kutschen immer mehr wurden, empfanden es fromme Pilger aber als ihre heilige Pflicht, Pilgermärsche zu Fuß zu absolvieren. Für sie ist der physische Akt des Gehens ein Ausdruck ihrer Hingabe und ihres Glaubens. Und oft auch eine Möglichkeit, noch schnell Buße zu tun. Bereits im 18. Jahrhundert gewann dann Wandern immer mehr an Bedeutung als Freizeitaktivität. In der Romantik noch eine Möglichkeit, Schönheit zu entdecken und Inspiration zu finden, wurden spätestens im 19. Jahrhundert fast in allen Haushalten regelmäßig die Wanderschuhe geschnürt. In Europa entstanden die ersten Vereine, es wurde marschiert, was das Zeug hielt. Stichwort: körperliche Ertüchtigung. Nach den beiden Weltkriegen widmete man sich auch auf einer organisatorischen Ebene der ausgebrochenen Wanderlust. So entstanden zahlreiche Nationalparks und Naturschutzgebiete, neue Wanderwege und -karten sowie Markierungssysteme. 1937 war die Geburtsstunde eines der berühmtesten Weitwanderwege Nordamerikas: der Appalachian Trail. Er führt durch insgesamt 14 amerikanische Bundesstaaten und ist 3.502 Kilometer lang. In der Alten Welt freilich sind auch die Weitwanderwege geringfügig älter.
Jakobsweg: Mutter der Pilgerwege
Der berühmteste Weitwanderweg Europas, der Jakobsweg (Camino de Santiago), wurde beispielsweise bereits im Mittelalter regelmäßig begangen, von Pilgern ebenso wie von Menschen, die andere Gründe für ihr Wanderfieber hatten. Daran hat sich bis heute nichts geändert, freilich aber an der Popularität des Wegs, der nach Santiago de Compostela in Spanien führt. Seine bekannteste Variante beginnt in den französischen Pyrenäen und ist etwa 800 Kilometer lang. Wer zumindest die letzten 100 Kilometer zurückgelegt hat, darf seinen Pilgerausweis in Compostela gegen eine Urkunde eintauschen, egal, ob religiös motiviert oder aus anderen Gründen wandernd. Rund 300.000 Menschen pro Jahr nehmen aktuell eine dieser Urkunden entgegen. Die Zahl der Menschen aus dem deutschsprachigen Raum auf dem »Camino« stieg seit 2006 rasant an; ein Umstand, der auch mit der Veröffentlichung des Buchs »Ich bin dann mal weg – Meine Reise auf dem Jakobsweg« des Komikers Hape Kerkeling zu tun hat. Waren es im Jahr 2005 noch etwa 7.000 Marschierende, holten sich im Jahr 2007 bereits 20.000 Menschen Blasen und Sonnenbrand unterwegs.
PCT: Durch die Schönheite von Eis und Hitze wandern
1968 folgte der zweite bedeutende Fernwanderweg in den USA: der Pacific Crest Trail. Er gilt als »Königsklasse« unter den Weitwandernden, denn mit seinen 4.270 Kilometern Länge und seiner Ausdehnung von der mexikanischen Grenze in Kalifornien bis zur kanadischen Grenze in Washington ist er nicht nur lang, sondern auch hinsichtlich Klima und Terrain besonders abwechslungsreich. Zu den geländetechnischen Herausforderungen gehören unter anderem steile Anstiege, schneebedeckte Pässe und Felsenklettereien. Im Umkehrschluss heißt das: Wer sich auf ihn wagt, muss gut vorplanen. Schließlich heißt es, für Gegebenheiten wie Wüsten, Hochgebirge und alpine Regionen ebenso gerüstet zu sein wie für sengende Sonne im Süden und winterliche Wälder im Norden. Zudem sind einige der Streckenabschnitte des kurz »PCT« genannten Pacific Crest Trails an der Westküste der Vereinigten Staaten sehr weit von jeglicher Zivilisation entfernt. Da will man nicht unbedingt ohne Wasser ankommen. Sogenannte »Thru Walkers«, also Wandernde, die die Strecke nicht abschnittsweise mit langen Pausen dazwischen, sondern »an einem Stück« durchwandern, sind in der Regel 120 bis 150 Tage unterwegs. Damit das überhaupt machbar ist, gibt es entlang der Strecke sogenannte »Trail Angels«. Dabei handelt es sich um Freiwillige, die Unterkünfte, Wasser, Hilfe und Mahlzeiten zur Verfügung stellen. Auch hier sorgten ein Buch (und dessen Verfilmung im Jahr 2014 mit Reese Witherspoon in der Hauptrolle) für einen regelrechten »Fernwander«-Boom. »Wild – Der große Trip« basiert auf der Geschichte der US-Amerikanerin Cheryl Strayed, die nach dem Tod ihrer Mutter und dem Zusammenbruch ihrer Ehe in eine Krise gerät. Obwohl unerfahren, macht sie sich auf, um den PCT zu bezwingen – allein noch dazu. Sie kämpft sich durch eine Vielzahl an Herausforderungen, die jeder und jedem Weitwandernden bekannt vorkommen: Mentale und emotionale Tiefs, schweres Gepäck, Verletzungen, Einsamkeit und Wetterkapriolen sind nur einige davon. Unterwegs begegnet Cheryl aber anderen Menschen, die sie in ihrem Selbstfindungsprozess unterstützen. Seit Erscheinen des Films folgen immer mehr Menschen Cheryls Beispiel: Die Anzahl der ausgestellten »Thru Hike Permits« schnellte von rund 1.000 im Jahr 2013 auf fast 5.000 im Jahr 2022. Mögen sie alle wohlbehalten ans Ziel kommen! Alternativ stehen weltweit zahlreiche weitere Fernwanderwege zur Auswahl, viele davon in den Alpenregionen des DACH-Raums, doch selbst in Neuseeland ist die Natur nicht vor motivierten Weitwandernden gefeit.