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© Dinesh Mehta

Indische Architektur: Im Land von Shiva und Ganesha

Indien
Architektur

Mit seinen 1,45 Milliarden Einwohner:innen ist Indien das bevölkerungsreichste Land der Erde. Entsprechend bunt und vielfältig sind seine Bauten – ob das nun karierte Cafés, protzige Büros oder unterirdische, organisch geformte Kunsttempel sind.

Eine Landschaft aus Ocker- und Grautönen, aus großen Portalen und kleinen, verspielten Details, aus würfeligen Baseball-Käppis und schaufelartigen Parapetts, als hätte jemand an der Fassade mit großer Freude dreidimensionales »Tetris« gespielt: willkommen im neuen Student:innenheim »The Street« in der nordindischen Stadt Mathura auf halber Strecke zwischen Neu-Delhi und dem weltberühmten Taj Mahal. Insgesamt fasst der Bau, der zur besseren Strukturierung auf fünf lineare Blöcke mit dazwischen liegenden Gärten und Innenhöfen verteilt ist, 800 Zimmer.

»Das ist eine ziemlich große Menge an Studierenden, die wir hier unterbringen mussten«, sagt Sanjay Puri, CEO und Gründer seines gleichnamigen Büros Sanjay Puri Architects mit Sitz in Mumbai. »Aus diesem Grund haben wir die Wohnanlage skulptural gestaltet, wie mit einem Messer in einen riesigen Lehmblock hineingearbeitet, sodass trotz der Größe eine kleinteilige Lebendigkeit entsteht.« Zum Hof hin verfügt jedes Zimmer über ein schräg gestelltes, raumbildendes Erkerfenster, zum Korridor hin gibt es einen strategisch platzierten Ventilator. Auf diese Weise kann jedes Zimmer – bei geringem Baubudget und ohne jegliche Klimatisierung – jederzeit quergelüftet werden.

»Ja, wir müssen mit den uns zur Verfügung stehenden Mitteln manchmal sorgfältig und überaus geschickt agieren«, erklärt der 57-jährige Architekt. »Ich finde diese Reduktion auf das Wesentliche bei gleichzeitiger Weiterschreibung unserer Baugeschichte, auf die wir in unserem Land zurückblicken können, eine spannende, herausfordernde Aufgabe.« Und er dürfte diese Aufgabe mit Bravour gemeistert haben: Mit seinen 90 Mitarbeiter:innen zählt das Studio, das vor allem auf die Bereiche Wohnen, Kultur, Bildung, Shopping, Hotellerie und Gastronomie spezialisiert ist, heute zu den meistzitierten und weltweit meistpublizierten Büros Indiens.

»Office @63«, Navi Mumbai. Narsi & Associates baut Möbel und ganze Aus-stattungen für Google, Amazon und Unilever – und brauchte nun selbst ein Büro für sich, das zugleich als Showroom und bauliche Visitenkarte dient.
sanjaypuriarchitects.com, narsi.in

© Sanjay Puri Architects

Amdavad Ni Gufa, Kunstraum, Ahmedabad. Balkrishna Doshi (1927–2023) ist der einzige Pritzker-Preisträger Indiens. 1994 baute er in Zusammenarbeit mit M. F. Husain diesen unterirdischen Kunstraum, in dem Werke des Künstlers Maqbul Fida Husain ausgestellt werden.
pritzkerprize.com

© Iwan Baan

Wild und widersprüchlich

Ob der hinduistische Virupaksha-Tempel aus dem siebenten Jahrhundert, das 1648 fertig-gestellte Mausoleum Taj Mahal in Agra, das 1799 errichtete Hawa Mahal in Rajasthan, auch besser bekannt als Palast der Winde, die indische Planstadt Chandigarh nach Plänen von Le Corbusier oder das bauliche Erbe des einzigen indischen Pritzker-Preisträgers Balkrishna Doshi: Indien zählt zu den kulturell reichsten und dank seiner schieren Größe von über 1,45 Milliarden Menschen vielfältigsten Architekturdestinationen der Welt. Wilder und widersprüchlicher als in diesem mittlerweile bevölkerungsreichsten Land der Erde könnten die errichteten Bauten kaum sein.

Das merkt man auch in Navi Mumbai, wo der indische Möbelproduzent Narsi & Associates seinen Bürositz hat. Das einstige Tischlereiunternehmen zählt heute zu den größten B2B-Ausstattern für den Office- und Objektbereich. Zu den Kund:innen von Narsi zählen etwa Google, Amazon, Deloitte, Unilever und der Automobilkonzern Tata. Entsprechend pompös und luxuriös musste die bauliche Visitenkarten ausfallen, die – man glaubt es kaum – ebenfalls nach Plänen von Sanjay Puri Architects entstanden ist.

Es blinkt und blitzt und glitzert und funkelt und wuselt wie auf einem riesigen, niemals endenden Wimmelbild. Am Boden hochglänzender Marmor Grigio Armani aus Italien, an den Wänden ein Zusammenspiel aus Cortenstahl, Walnussfurnier und CNC-gefrästen Lichtpaneelen, dazwischen immer wieder organisch geformte Meetingräume mit elliptisch gekrümmten Glaswänden. Geld, das scheint bald klar zu sein, war bei diesem Bürogebäude kein Thema.

»The Pink Zebra«, Kanpur. Wie in einem Film von Wes Anderson erstrahlt das Restaurant im Norden Indiens in sattem Pink und fetten Streifen.
sanjaypuriarchitects.com,narsi.in

© Sanjay Puri Architects

»Vegan Matrix«, Chandigarh. Wie macht man moderne vegane und glutenfreie Küche sichtbar? Das Büro Renesa mit Sitz in Neu-Delhi beantwortet diese Frage mit weißen und erbsengrünen Kacheln, die wie eine Matrix über Tische, Sitzbänke und Blumentöpfe gestülpt werden. In Anlehnung an die Diner der Fünfziger- und Sechzigerjahre gibt es an der Decke Spiegel und Leuchtstoffröhren.
studiorenesa.com

© Niveditaa Gupta

Chhatrapati Airport, Mumbai. Auf den ersten Blick erinnert die Struktur aus Stützen und Dachlandschaft an einen traditionellen indischen Pavillon, an treibende Lotusblüten und Seerosen. Und genau das war die Absicht des
New Yorker Architekturbüros Skidmore, Owings & Merrill. Mit 70.000 Quadratmetern ist dies die weltweit größte Dachkonstruktion ohne eine einzige Dehnungsfuge.
som.com

© Chhatrapati Shivaji International Airport

Aatma Manthan Museum, Nathdwara. Ohne jeden Zweifel orientierte sich Sanjay Puri bei diesem Museum am Fuße der 82 Meter hohen Glaubensstaute Aatma Manthan an jenem Kunstraum, den Balkrishna Doshi vor 30 Jahren in Ahmedabad baute, siehe oben. Die organisch weichen Innenräume sind in schallabsorbierenden Schaumbeton gehüllt.
sanjaypuriarchitects.com

© Sanjay Puri Architects

»Da tut sich schon viel, oder?« Sanjay Puri lacht, scheint Spaß zu haben an diesem barocken Füllhorn. »Aber die Fülle und die Heterogenität in diesem Projekt sind pure Absicht. Es war ein ausdrücklicher Wunsch des Bauherrn, das Design in puncto Technik, Material und Geometrie möglichst komplex zu gestalten, denn er hat all das, was wir hier geplant haben, selbst produziert. Das Büro dient ihm als Showroom und ist der ultimative Beweis dafür, dass nichts unmöglich ist.« Das »Office @63«, benannt nach der Parzelle Nummer 63 im Gewerbepark Navi Mumbai, ist Zeuge eines turbokapitalistischen, wirtschaftlich erstarkenden Tigerstaates und wurde bei den ARCHITECT's 2022 Architecture & Interiors Awards ausgezeichnet.

Deutlich ruhiger und entrückter ist die Stimmung im kürzlich fertiggestellten Aatma Manthan Museum in Nathdwara, Bundesstaat Rajasthan. Ganz im Geiste des 2023 verstorbenen Künstlers, Architekten und Pritzker-Preisträgers Balkrishna Doshi schuf Sanjay Puri einen Kulturtempel der weich ineinanderfließenden Räume. Wände, Decke, Stützpfeiler und sogar die Sitzbänke sind homogen mit einer dünnen Schicht Schaumbeton verkleidet, der zugleich als absorbierender Schallschutz dient. Das Projekt wurde zum besten Museum 2024 gekürt. Hier können Geist und Auge für einen kurzen Augenblick entspannen – bevor es kurz darauf wieder ins quirlige Architekturland Indien hinausgeht.

Erschienen in
LIVING 01/2025

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Wojciech Czaja
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