Die Geschichte beginnt mit der Ankunft eines jungen Mannes in einer großen Hafenstadt, wo ihn ein Empfehlungsschreiben zum reichen Handelsherrn John führt. „Wer nicht Herr ist wenigstens einer Million, der ist ein Schuft“, lautet dessen kapitalistisches Credo, das den Ich-Erzähler, der hier sein Schicksal ausbreitet, ­umgehend überzeugt. 

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Als ein grau gekleideter Herr, unschwer als Teufel zu erkennen, auftritt und ihm einen Geldbeutel mit schier unerschöpflichem Inhalt anbietet, greift er zu. Denn der Handel, für den der graue Herr lediglich seinen Schatten verlangt, scheint ihm doch sehr günstig zu sein. So beginnt das Märchen voller Irrungen, Wirrungen und vieler offener Fragen, das Adelbert von Chamisso 1813 zu Papier brachte und das bis heute Kunstinteressierte ebenso in seinen Bann zieht wie Wissenschaftler.

Das Theater der Jugend bringt diese in der Tat wundersame Geschichte in einer Bearbeitung von Gerald Maria Bauer, der auch Regie führt, und Sebastian von Lagiewski auf die Bühne – sobald das geht.

Analogien zur Gegenwart

„Ich habe das Original im ersten Lockdown gelesen und gefunden, dass dies eine unglaublich schöne, tiefromantische Geschichte ist, die der Frage nachgeht: Wie sehr braucht man die anderen, um sich selbst zu finden?“, erzählt Gerald Maria Bauer. Denn die Hauptfigur stößt schattenlos rundum auf Ablehnung, sie verstört die Menschen, die merken, dass mit ihr etwas nicht stimmt.

Von der ­Gegenwart ­inspiriert. Die Idee zur ­Bearbeitung des Stücks hatte Gerald Maria Bauer

Philipp Horak

„Man kann sich zwar nicht nur über die anderen definieren, aber man braucht die anderen, um sich selbst zu definieren. Das fand ich sehr spannend, weil es in gewisser Hinsicht auch die Lockdown-Situation widerspiegelt. Es ist auch eine ­Geschichte der Ortlosigkeit. Chamisso selbst war ja Franzose, ist vor der Französischen Revolution nach Deutschland geflohen, durfte dann in den Napoleonischen Kriegen aber nicht für die Preußen kämpfen, obwohl er ­Offizier war. Diese Getriebenheit, dieses Nichtverständnis von Heimat merkt man auch dem Stück an.“ 

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Man braucht die anderen, um sich selbst zu definieren

Gerald Maria Bauer, Regisseur

Auch sein Protagonist reist rastlos um die Welt, auf der Suche nach dem grauen Herrn, der ihm seinen Schatten zurückgeben soll. Chamisso tat selbiges als Wissenschaftler, nahm an einer Weltumseglung teil, studierte Medizin und Botanik, um seine letzten Lebensjahre als Kustos am Königlichen Herbarium in Berlin zu verbringen. Seine Novelle inspirierte später nicht nur James Krüss zu dessen „Timm Thaler“, bei dem der Schatten lediglich durch das Lachen ersetzt wurde, sondern auch C. G. Jung, den Begründer der Analytischen Psychologie, dem der Schatten als das Unbewusste galt. 

Faszination des Andersseins

„Man kann schon darüber nachdenken, wie man sich selbst in so einer Situation verhalten würde“, schmunzelt Gerald Maria Bauer auf die Frage, was uns das Stück heute sagen will. „Ich habe im Ensemble eine kleine Umfrage gemacht, und die Mehrheit war der Meinung, sie würde für viel Geld ebenfalls ihren Schatten verkaufen. Denn man brauche ihn ja wirklich nicht. Aber das stimmt nicht, dein Schatten ist natürlich ein Teil von dir.“ 

Die „wundersame Geschichte“ ist eine Parabel auf das Anderssein. „Das ist das Spannende daran. Zu einer Randgruppe zu gehören, heimatlos zu sein. Wie setzt man sich damit auseinander, nicht vollständig zu sein? Und wie findet man sich mit dem Anderssein zurecht und wird damit glücklich? Das sind existenzielle Fragen, die man auch so verhandeln muss. Es ist im besten Sinn ein Mutmach-Thema, ohne dass man in eine heile Welt verfällt.“ 

Ebenfalls im Stück verankert ist eine frühe Kapitalismuskritik, denn froh macht der dekadente Reichtum Peter Schlemihl zu keiner Sekunde. Am Ende zieht er sich zurück, um als Wissenschaftler kluge Manuskripte zu verfassen. Auch das lässt an den Lockdown denken.

Schattenlos in der Praxis

In der Bühnenumsetzung stellt sich die Frage, wie man einem Menschen den Schatten nimmt. Für Ausstatter und Lichtdesigner Friedrich Eggert ein Ding der Unmöglichkeit: „Jedes Objekt wirft einen Schatten, sobald eine Lichtquelle vorhanden ist, und sei es nur ein Punkt. Wir mussten also eine andere Lösung finden und sind schnell auf einen Kunstgriff gekom­men: Wir spielen die Schatten selbst.“ 

Rastlose Hauptfigur. Marius Zernatto reist in der Titelrolle um die Welt. Nicht nur auf der Suche nach dem grauen Herrn.

Philipp Horak

Zu jedem Schauspieler im farbenfrohen Kostüm gibt es also auch einen Zwilling im schwarzen Gewand, der den Schatten darstellt. „Das Ganze vor einem weißen Hintergrund, der stark beleuchtet wird, sodass man von der hinteren Figur nur den Schatten sieht.“ Da in den Bewegungen alles synchron sein muss, bedarf es einer ausgeklügelten Choreografie und viel Übung. 

Der Rest des Bühnenbilds, so Friedrich Eggert, sei eher zurückgenommen, auch deshalb, weil es eben diese weiße Fläche brauche. „Die Orte sind nicht so wichtig, wir haben versucht, dem Stück einen globalen Charakter zu geben. Die Bühne ist eher ein Konzentrationsraum, um unterschiedliche Ausschnitte aufzumachen und die Schattenbilder einzurahmen. Und bei den Kostümen muss man sich überlegen, welche Silhouette einen schönen Schatten abgibt, sonst ist es ja witzlos.“ Für ihn ist die Herausforderung ohnehin jedes Mal eine andere, auch die technischen Voraussetzungen seien an jedem Theater unterschiedlich. 

Sein persönliches Lieblingslicht ist übrigens „ein Sommertag in Italien“. Und in einen solchen würden wir uns wohl jetzt alle gerne hineinzaubern. 

Zur Person: Gerald Maria Bauer

Während des Studiums an verschiedenen Theatern tätig, es folgten Stationen bei den Wiener Festwochen, dem steirischen herbst, dem Schlossparktheater Berlin und dem Theater in der Josefstadt. Seit 2002 ist er stellvertretender künstlerischer Leiter und Chefdramaturg des Theaters der Jugend. 

Zur Person: Friedrich Eggert

Als Bühnen- und Kostümbildner sowie Lichtdesigner für renommierte Häuser wie das Staatstheater am Gärtnerplatz, die Oper Graz, die Wiener Volksoper, das Stadttheater Klagenfurt und die Opéra de Paris aktiv, ist Friedrich Eggert auch regelmäßig am Theater der Jugend tätig. 

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