Wozu sind Manieren gut? Hätten sich ihre unterschiedlichen Formen über tausende Jahre erhalten, immer wieder verändert und verfeinert, vom Ritual der An- und Abrede in Briefen bis zum barocken Schnörkel, wenn sich daraus nicht ein Vorteil ziehen ließe? Was der Mensch tut, tut er zu seinem Nutzen. Was nicht heißt, dass der andere dadurch einen Nachteil haben muss. Aber nur, weil es manierlich ist, tut man es nicht gleich tausend Jahre lang.

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Manieren jeglicher Art und Form – sei es eine ­appetitliche Haltung beim Essen, sei es schlichtes Grüßen, Platzmachen in der U-Bahn, Vorlassen an der Kassa – sind eine Methode, sich den anderen auf Abstand zu halten."

Michael Köhlmeier

Nach intensivem Nachdenken habe ich eine Antwort gefunden: Manieren jeglicher Art und Form – sei es eine ­appetitliche Haltung beim Essen, sei es schlichtes Grüßen, Platzmachen in der U-Bahn, Vorlassen an der Kassa – sind eine Methode, sich den anderen auf Abstand zu halten. Wir fallen ohne Nähe aus den Fugen, das ist wohl wahr; zugleich aber halten wir enge Nähe nicht aus. Wenn ich ein Gesicht über lange Zeit sehr nahe vor mir sehe, gelingt es meiner Einbildungskraft nicht mehr, mich in diesem Gesicht wiederzufinden, ich sehe dann tatsächlich nur noch den ­anderen.

Freundschaft und Liebe aber bedürfen dieser besonderen Form der Einbildungskraft: Ich will, ich muss mich im anderen wiedererkennen. Liebe – da sollen wir uns nicht vom ­Pathos der ­sogenannten großen Gefühle betäuben lassen – enthält immer ein Gran Selbstliebe. Absolute Selbstlosigkeit ist Fanatismus und nicht selten mörderisch. Paradoxerweise entfremden wir uns bei länger andauernder Nähe voneinander. Ich kann im anderen nicht mehr mich selbst sehen. Ich sehe nur noch ihn. Dieser Einsicht folgt ein kleines Grauen: ­Jeder, wirklich jeder, ist mir fremd. Wenn diese Fremdheit wächst – und sie wächst durch Nähe –, wird daraus irgendwann ein großes Grauen.

Höflichkeit ist Freundlichkeit auf Abstand. Höflichkeit besagt: Bleib von meiner Haut weg! Aber sie sagt es auf freundliche Weise. Sie tut, als sagte sie: Ich bleibe von deiner Haut weg. Höflichkeit tut, als wäre der eigene Wunsch der Wunsch des anderen.

Über das „Du“ und das „Sie"

In Frankreich war es noch bis in die Mitte des letzten Jahrhunderts nicht unüblich, dass sich Eheleute siezten – Beispiel: Charles de Gaulle und seine Frau Yvonne Vendroux. Mein Vater sagte zu seiner Mutter und seinem Vater „Ihr“. „Mutter, wie geht es Euch?“ – „Vater, kann ich Euch helfen?“ Das war respektvoll. Eine Anrede zwischen dem Du und dem Sie. Es war respektvoll und höflich und betonte zugleich die Unabhängigkeit des Sohnes gegenüber seinen Er­zeugern. Mutter und Vater sagten selbstverständlich zu ihrem Sohn „Du“. Er würde ewig ihr Kind sein und bleiben. Sie würden ewig die Mutter und der Vater sein.

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Der Sohn aber war eine neue Welt, eine Welt für sich, und in dieser Welt würden die Eltern bald nur mehr als eine Erinnerung existieren. Der Sohn bleibt nicht ewig Sohn, nach der Pubertät wich das vertrauliche „Du“ des Kindes dem „Ihr“ des jungen Mannes. Das höfliche „Ihr“ markierte die Abkehr des Sohnes von seinen Eltern. Es war die Bestätigung der Entfremdung. Fürderhin würden Vater und Mutter fremd sein, fremder als ein Freund, fremder als der Kollege am Arbeitsplatz, unvergleichlich fremder als die zukünftige Ehefrau und die zukünftigen eigenen Kinder – für die wieder und von Anfang an die höflichen Worte des Abschieds vorgeformt sind, auch wenn sie diese noch nicht aussprechen können.

In zivilisierter Form sublimiert sich Gewalt in Worte."

Michael Köhlmeier

Weil sich der Mensch selbst am nächsten ist und es nur zu großem Unheil führt, dies nicht einsehen und gar ändern zu wollen, hat er Methoden entwickelt, sich den Anderen auf Armlänge vom Leib zu halten. In archaischen Mythen erschlägt der Sohn den Vater. Er tut es, um auf ei­genem Terrain zu stehen. In zivilisierter Form sublimiert sich Gewalt in Worte. Wo der Abstand unter Armlänge gerät, schlägt die Faust zu, in Zivilisation übersetzt: kommt Höflichkeit zum Einsatz. 

Höflichkeit zirkelt die eigene Souveränität ab. Sie sagt: Bis hierher und nicht weiter! Wenn du den Radius um meine Person überschreitest, mischst du dich in meine inneren Angelegenheiten ein. Wenn ich höflich bin, mache ich den anderen nicht nur auf mein Eigenes aufmerksam, die Höflichkeit ist der Stempel auf mein Recht, ein Eigenes zu besitzen. Nicht der, dem Höflichkeit entgegengebracht wird, ist der Souverän, sondern der Höfliche. In der Höflichkeit ist diese Art der Selbstbehauptung zwingend enthalten.

Das eigenartiges Wort „Freundlichkeit“

Was aber ist dann Freundlichkeit? Was erwarten wir, wenn wir freundlich sind? Doch wieder nur Freundlichkeit und nicht mehr. Sicher kann einer freundlich sein und will damit etwas erreichen, etwas anderes als wieder Freundlichkeit, dann aber nimmt er die Freundlichkeit in Anwendung, er macht sie zu einem Instrument. Für sich scheint Freundlichkeit purer Austausch zu sein, ohne Surplus, ohne Gewinn. Nur damit die Sonne ein wenig scheint, sind wir freundlich. Freundlichkeit, könnte man meinen, dient der Atmosphäre. Wir mögen es, wenn die Sonne ein wenig scheint, also sind wir freundlich. Es ist nicht einmal anstrengend, freundlich zu sein, und meistens bekommen wir Freundlichkeit zurück. Wenn nicht, war der Aufwand gering.

Ein eigenartiges Wort ist „Freundlichkeit“ auf alle Fälle, das wird deutlich, wenn man es so oft verwendet wie ich im vorangegangenen Absatz. Dem „Freund“ werden gleich zwei Suffixe angehängt, -lich und -keit. Ich gebe zu, im Umgang mit Wörtern neige ich zur Kümmelspalterei, das bringt mein Beruf mit sich – aber kann das tatsächlich ohne Bedeutung sein, wenn ein Wort sich verschanzt, doppelt verschanzt? Sind die Suffixe nicht wieder Abstandshalter, kleine, aber immerhin? 

Ich wage eine willkürliche Interpre­tation – die optimistisch ist, weil ich heute optimistisch bin (und die morgen vielleicht anders ausfiele): Die Freundlichkeit ist nicht nur an einen Menschen adressiert wie die Höflichkeit; die Freundlichkeit ist eine Haltung, sie gilt der ganzen Welt. Es wäre verlogen und wieder verwürzt mit süßsaurem Pathos, wenn einer verkündete, die ganze Welt sei sein Freund, nicht einmal naiv wäre das, denn so naiv kann kein denkendes Wesen sein – nein, die Freundlichkeit sagt deutlich: Ihr alle, die Menschen, die Tiere, die Steine, die Städte, die Wolken, die laue Luft, die eisige Luft, ihr alle seid nicht meine Freunde, aber gerade weil ich zu euch ein neutrales Verhältnis habe, ein wörtlich „gleichgültiges“ Verhältnis, möchte ich euch bekannt machen mit dem Gefühl der Freundschaft, allein, damit ihr dieses Gefühl kennenlernt. Damit ihr mich kennenlernt. Denn ich, ich bin ein freundlicher Mensch. 

Wieder geht es um das Ich. Worum denn sonst. Ich ist alles. Aber wenn es so ist, dann kann es nur nützen, wenn dieses Alles sich aufführt – nicht wie ein Freund, aber als wäre es ein Freund. Einverstanden?

Michael Köhlmeier

Schriftsteller, 70 Jahre 
Letzte Veröffentlichungen: „Bruder und Schwester Lenobel“, Roman, Hanser Verlag, „Die Märchen“, Hanser Verlag

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