Mein Freund Hans Theessink, der wunderbare Gitarrist, Sänger und Songwriter, und ich, wir haben vor einiger Zeit im Gläsernen Saal des Wiener Musikvereins zusammen einen Abend gestaltet. Hans hat ausgewählte Songs gespielt und gesungen, ich habe erzählt. Das Thema des Abends hieß: Indianer.

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Ich habe von Crazy Horse erzählt und von Geronimo, von Sitting Bull und Sequoyah, dem Erfinder der Cherokee-Schrift, und von anderen Helden. Hans wählte dazu aus dem großen Schatz der amerikanischen Songkultur entsprechende Lieder aus. Wir haben uns sorgfältig auf diesen Abend vorbereitet. Nach der Veranstaltung sprach mich eine Frau an. Sie war empört. Nicht weil sie mit der Art unseres Vortrags nicht einverstanden gewesen wäre, sondern wegen eines einzigen Wortes. Wir hatten einen Begriff verwendet, den man nicht mehr verwenden darf: Indianer. Ich fragte die Frau, wie ich hätte sagen sollen, damit sie zufrieden wäre. – Indigene. Ureinwohner Nordamerikas.

First Nation. – Ich sagte, das klinge aber nicht schön. Sie sagte, darauf komme es bei Gott nicht an. Der Begriff „Indianer“ sei diskriminierend, herabsetzend, rassistisch, das wisse inzwischen jeder. Dieses Wort nämlich sei eine Fremdbezeichnung. Die indigenen Völker Amerikas hätten sich selbst nie so bezeichnet. Das Wort verletze die Würde dieser Menschen.

Das wollte ich nicht, sagte ich. Im Gegenteil. Ich dachte, wenn ich aus der Geschichte dieser Menschen erzähle, trage ich ein bisschen dazu bei, ihnen die Würde zurückzugeben, die ihnen in Kriegen und nicht nur in Kriegen genommen worden war. Diese Absicht, sagte die Frau, hätte ich zerstört, indem ich das böse Wort verwendete. Und weil ich dieses böse Wort verwendet hätte, glaube sie mir auch die gute Absicht nicht. Aber das müsse sie, flehte ich halb, halb empörte ich mich. Ob sie mir denn nicht zugehört habe.

Das ging eine Zeitlang hin und her. Allmählich wurde ich wütend, zwei Dutzend Besucher unserer Veranstaltung standen um uns herum.Ich fragte die Frau, ob sie sich mit den Ureinwohnern Nordamerikas beschäftigt habe, was sie über die First Nation wisse – außer, dass sie korrekterweise „First Nation“ genannt würde. Ein Anwalt müsse sich doch über seine Klienten kundig machen, und sie stelle sich mir als Anwältin vor. Wenn mein böses Wort schon eine Fremdbezeichnung sei, ob sie dann wisse, wie sich diese Menschen selbst bezeichnet hätten und immer noch bezeichnen.

Wer zum Beispiel die Tseycum seien. Oder die Dakota oder die Irokesen oder die Saponi. Die Apachen werde sie wohl dem Namen nach kennen. Aber ob sie außer Cochise noch von einem anderen Apachen-Häuptling wisse, Winnetou allerdings gelte nicht. Ob sie wisse, was genau ein Pueblo sei. Ob sie wenigstens imstande sei, zwei Stämme aufzuzählen, die zu den Cheyenne gehören. Was sie über die Hopi sagen könne.

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Sie wusste nichts. Gar nichts. Sie wusste nur, dass ich unrecht hatte. Ich fragte sie, wie viele verschiedene Sprachen „dieser Menschen“ sie beim Namen kenne. Keine einzige kannte sie. Diese Fragen hatten sie nie interessiert. Ihr Engagement spielte sich auf einer höheren Ebene ab.

„Ich muss nicht“, sagte sie, „jeden einzelnen Menschen auf dieser Welt kennen, um behaupten zu dürfen, dass die Würde eines jeden Menschen unantastbar ist.“

Da musste ich ihr recht geben. Diesen Wortkampf hatte ich verloren.

Als sie schon drei Schritte von mir entfernt war, rief ich ihr nach: „Wissen die Mitglieder der First Nation, dass Sie ihre Anwältin sind?“

Das war ziemlich schwach von mir. Und eigentlich auch gehässig. Sie ging weiter, ohne mir zu antworten. Ich ärgerte mich – über die Frau, mehr noch über mich selbst.

Ich will hier nicht darüber mutmaßen, welche Wörter korrekt sind und welche nicht und warum. Ich möchte mir darüber Gedanken machen, wie es ist, wenn sich jemand ohne Auftrag zu einem Anwalt eines anderen macht. Es ist gut, ja, es ist gut. Es gibt und gab immer Menschen, die können und konnten sich nicht wehren – gegen Ungerechtigkeit, gegen Ausbeutung, gegen Vergewaltigung, gegen Raub und gegen Demütigung. Und sie hatten nicht einmal die Möglichkeit, um einen Anwalt oder eine Anwältin zu bitten oder gar einen Beistand zu fordern. Und es gibt und gab immer wieder Menschen, die – unaufgefordert – Hilfe geben und gaben.

Dennoch – und nun spreche ich als mein eigener Anwalt – bin ich skeptisch, wenn jemand von der Würde des Menschen und ihrer Unantastbarkeit spricht und meint, mit dem bloßen Aussprechen dieser beiden hehren Worte habe er seinen Dienst an der Gerechtigkeit abgeleistet.

Zur Person: Michael Köhlmeier

Der renommierte ­Schriftsteller mit ­Wohnsitzen in Hohenems und Wien veröffentlichte ­Ende August im Hanser Verlag den Katzenroman  Matou

Den Menschen im Allgemeinen gibt es nur in der Einbildung, als etwas Abstraktes, als ein Prinzip, als einen Gedanken. Der Mensch im Besonderen aber hat einen Namen, er hat eine ganz spezielle Geschichte, er ist böse und gut, manchmal in ein und derselben Handlung. Er ist es wert, dass wir uns in die Niedrigkeit seines Alltags begeben. Dass wir mit ihm essen und trinken. Dass wir uns seine Witze anhören und seine Witze weitererzählen.

Er lässt sich nicht deklarieren wie seine abstrakten Rechte. Man muss sich schon die Mühe nehmen, ihn anzusehen und anzuhören. Man muss von ihm erzählen, man muss sich seine Lieder anhören. Und es schadet auch nichts, wenn wir seine Lieder singen. Lassen wir uns von Anwälten, die hurtig zu den Gipfeln der Abstraktion hüpfen, nicht einreden, das sei „kulturelle Aneignung“ und böse. Wer je Hans Theessink gehört hat, der weiß, dass die Schönheit seines Gesangs und seines Spiels die vornehmste Form von Respekt ist.

Von der Würde zu sprechen und dann zu meinen, das genüge, ist billig. Mann und Frau sind gleich! Punkt! Um die Einzelheiten – wie zum Beispiel gleicher Lohn für gleiche Arbeit – sollen sich die anderen kümmern, nämlich die, denen es nicht ge- geben ist,eloquente Formeln in die Luft zu posaunen

– die sich aber empören, wenn sich jemand gegen die von ihnen aufgestellten Sprachregeln versündigt. So – Ende des Plädoyers in eigener Sache.

Nach unseren Auftritten gehen wir meistens noch in ein Beisl und essen Würstl mit Senf und Kren und trinken ein Bier. Diesmal trank ich drei Bier, große, und war betrunken. Und wir sangen – grad extra! – das Lied von Peter La Farge über Ira Hayes:

Gather ’round me people There’s a story I would tell ’Bout a brave young Indian You should remember well.

Call him drunken Ira Hayes
He won’t answer anymore
Not the whiskey drinking Indian Or the marine that went to war.

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