Lukas Sandmann kratzt den letzten Krümel Tabak aus dem Beutel und dreht sich noch eine Zigarette. Er habe eigentlich nur ein einziges Ritual, sagt Lukas Sandmann am Ende unseres zweistündigen Gesprächs: Aufstehen, Zigarette, Kaffee. Ziemlich Rock’n’Roll? Nein, für Rock’n’Roll müsse es schon Vodka, nicht Kaffee sein. Insofern passt er doch besser in jenes Genre, in dem er gerade Erfolge feiert: Das Musical.

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Wobei - auch Musical kann Rock’n‘Roll sein. Ein Grund, warum er seinen Beruf so liebt. Lukas Sandmann will sich in keine Schubladen, keine Genres und auch keine Geschlechterrollen zwängen lassen. Diese Chamäleon-Philosophie hat ihm nun quasi den Oscar der deutschsprachigen Musical Branche eingebracht. 

Ein bisschen Selbstvertrauen gehört manchmal dazu.

Lukas Sandmann in seiner Rede beim deutschen Musicalpreis 2021

Ein Treffen in Lukas Sandmanns Linzer Wohnung: Plakate seiner bisherigen Produktionen hängen an den Wänden. Von „Fack you Goethe – Das Musical“ über „My Fair Lady“ bis zu „Green Day’s American Idiot“. Zwischen Computer und Technik steht die Trophäe für den Deutschen Musical Preis für seine Hauptrolle als Robert in „The Wave“ – beinahe unscheinbar.

Diese Auszeichnung groß in den Vordergrund zu stellen, wäre untypisch für den 28-Jährigen gewesen. Da schließt auch der letzte Satz seiner Dankesrede bei der Preisverleihung an: „Ein bisschen Selbstvertrauen gehört manchmal dazu“, sagte er. Eine Erinnerung, vor allem an sich selbst gerichtet.

Lukas Sandmann in einer Szene des Musicals „The Wave" - dafür wurde er mit dem deutschen Musicalpreis ausgezeichnet.

Foto: Reinhard Winkler

„Ich wollte immer der sein, den alle mögen“

Denn mit dem Selbstvertrauen ist es ja so eine Sache: „Für mich war Selbstvertrauen immer negativ besetzt. Ich wollte einfach immer der sein, den alle mögen, bloß niemals abgehoben sein“, sagt er. Doch wie weit kommt man ohne Selbstvertrauen, gerade im Show Business?

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Dabei wird Lukas Sandmanns Karriere von Beginn an gefördert. Sein musikalisches Talent ist dem gebürtigen Chemnitzer sprichwörtlich in die Wiege gelegt worden: Sein Vater ist Dirigent, die Mutter Konzertmeisterin der Robert-Schumann-Philharmonie in Chemnitz. Als Sechsjähriger wird sein Talent im Knabenchor erkannt. In Chemnitz besucht er neben der Schule die Talenteschmiede „Studio W.M. – Werkstatt für Musik und Theater“, wo Opernsänger und Leiter Wieland Müller ihn unter seine Fittiche nimmt. Er richtet den Unterricht dahingehend aus, dass Lukas Sandmann „so breit wie möglich aufgestellt ist”. Also, von Operette bis Pop. “Dafür bin ich meinem Lehrer für immer dankbar”. In Hamburg wird Sandmann auf der renommierten Joop van den Ende Akademie zum staatlich anerkannten Musicaldarsteller ausgebildet. 

Seit 2019 ist er ein fixes Ensemble-Mitglied am Linzer Musiktheater. Regisseur Christoph Drewitz erkennt Lukas Sandmanns Potential unter anderen in der “puren Emotion.“

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Non-Binary als “einfachste Variante”

Und genauso, wie er sich auf kein Genre beschränkt, will sich Sandmann auch nicht für ein Geschlecht entscheiden müssen. Nach dem Aufwachen, vor dem Schrank, entscheidet er spontan, wer er heute sein will - Mann oder Frau? „Ganz ehrlich, für mich ist non-binary schlichtweg die einfachste Variante. An manchen Tagen trage ich lieber einen Rock, an manchen eben eine Jeans.“ Heute ist sein Eyeliner beeindruckend gerade, wie mit einem Lineal gezogen. Er genieße es schlichtweg, sich zu schminken und ‚aufzutakeln“.

Früher hatte er auch einen Namen für seine weibliche Seite: Lucy. Aber darauf beharrt er heute nicht mehr. Er ist Lukas. Nicht zwingend als Mann – sondern eine Person, mit allen Seiten, die dazu gehören. 

Lukas Sandmann mit dem deutschen Musicalpreis 2021.

Foto: Morris Mac Matzen

Rolle mit eigenen Emotionen gefüttert

Das genieße er auch an seiner neuen Heimat, Linz. Bis vor drei Jahren kannte ihn in der oberösterreichischen Hauptstadt niemand. Insofern legte auch niemand den Kopf schief, als er eines Tages mit Frauenoutfit zur Probe im Musiktheater erschien. Als er das Thema bei seinem Regisseur ansprach, sagte dieser nur: „Mir ist egal, wie du kommst, solange du deinen Job machst.“

Und das macht er, tatsächlich mit vollem Körpereinsatz. „Ich bin ein Körperlerner“, erklärt der 28-Jährige: „Das heißt, es bringt mir gar nichts, zu versuchen, den Text auswendig in den Kopf zu pressen. Ich muss den Text mit meinem Körper, mit Bewegungen verbinden.“ Deshalb stehe er oftmals bis zu den letzten Proben mit seinem Text auf dem Tablet auf der Bühne. 

Leer gesaugt von der Rolle

Doch nicht nur körperlich gibt Lukas Sandmann seinen Rollen so viel wie möglich, sondern auch emotional: Als seine herausragenden Leistungen mit dem Deutschen Musical-Theater-Preis geehrt werden, wirft das eine weitere, tief-persönliche Frage auf:

Wie sehr muss ich mich für eine Rolle emotional aufopfern, um ausgezeichnet zu werden?

Denn die Rolle des Robert, erzählt der 28-Jährige, habe ihn völlig leer gesaugt. „The Wave“ handelt von dem Experiment eines Geschichtslehrers, der in einer Highschool beweisen will, wie schnell sich die Strukturen des Nationalsozialismus wieder etablieren können. Lukas Sandmann spielt Robert, der vom Mobbingopfer zur rechten Hand des Lehrers wird. Von Anfang an füttert er die Rolle “mit eigenen Emotionen und Erfahrungen”, sagt er. 

Als das Projekt des Lehrers gegen Ende aufgedeckt wird, ist Robert zutiefst getroffen. Er hatte zum ersten Mal das Gefühl, Teil einer Gemeinschaft zu sein. In der letzten Szene hält sich Robert eine Pistole an den Kopf. Seine Mitschüler können ihn davon abhalten, abzudrücken. Robert schreit verzweifelt und stürmt von der Bühne. 

„Aber ich bin nicht mehr aus der Rolle herausgekommen.” Der Frust seiner Rolle bleibt an ihm hängen. Wie ein Schwamm hatte er all diese Emotionen aufgesaugt – bislang seine große Stärke. Doch in dem Moment konnte er sich nicht mehr von ihnen lösen, sagt er rückblickend. Ein persönlicher Tiefpunkt, der sich später zu einer wichtigen persönlichen Erkenntnis umwandelte:

Ich muss mich selbst von meinen Rollen distanzieren. Wie weiß ich noch nicht. Aber genau das ist wohl ein Prozess, dem ich mich stellen muss.

Streaming vor Online Publikum

Entspannen kann er sich vor einem anderen Publikum. Einem virtuellen Publikum. Lukas Sandmann ist begeisterter Gamer. Wenn keine Proben oder Aufführungen am Tagesplan stehen, spielt er dennoch live, allerdings vor der Community der Streaming Plattform „Twitch“. Auf seinem Schreibtisch sind drei Bildschirme, eine Kamera und ein Mikrofon aufgebaut. Bis zu sechs Stunden lang streamt der 28-Jährige seine Spiele. Klassiker wie Sims oder sein derzeitiger Favorit „Beyond: Two Souls“.

 Lukas Sandmann bekommt dann eben doch viel Kraft aus dem Kontakt mit dem Publikum - gleich, ob online oder offline.

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Neue Produktionen, neue Zielgruppe

Stichwort Publikum: Die heimischen Musical-Häusern sollten neue Strategien versuchen, um in Zukunft noch mehr Zuseher:Innen anzusprechen, meint Lukas Sandmann. Wie das gelingen könnte? Durch vergleichsweise neue, hierzulande noch unbekannte Produktionen:„Sicher, wir können das fünftausendste Mal ‚Cats‘ spielen, aber es gibt noch so viele vergleichsweise unbekannte Stücke, die in Österreich nicht ausreichend Aufmerksamkeit bekommen.“ So etwa das Broadway-Musical „Dear Evan Hanson.“

Sein Wunsch für die Zukunft also: Mehr Selbstvertrauen, nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Musical-Branche.

Linzer Landestheater