„Digital ist besser“ stand in rosa Schrift auf dem ersten Album der deutschen Band Tocotronic, das vor ziemlich genau 26 Jahren den Erfolg der Gruppe begründete. Die Diskussion über die guten, schlechten und allerbesten Seiten der Digitalisierung hat durch die aktuelle Krisensituation wieder neuen Zündstoff bekommen. Und auch wenn man sich in vielen Bereichen auf den bereits erwähnten Albumtitel nicht so recht einigen kann, scheint sich ein Großteil der verschiedenen Branchen zumindest mit „digital ist möglich“ oder „digital ist gut" arrangiert zu haben. Nicht so im Theater, wo Streaming nach wie vor polarisiert.

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Während sich in Deutschland einige große Bühnen für digitale Angebote öffneten, steckte man in Österreich vergleichsweise wenig Zeit und Geld in das Aufzeichnen von Produktionen. Mit einigen Ausnahmen versteht sich. So war das Wiener Burgtheater bei der Entwicklung ganz neuer Formate, wie der Videoserie „Wiener Stimmung“ im Frühsommer/Sommer letzten Jahres, ganz vorne mit dabei. Mitglieder des Ensembles lasen und interpretierten in dieser Serie eigens dafür geschriebene Texte österreichischer Autorinnen und Autoren. Mit „Die Maschine in mir (Version 1.0)“, einer aus dem Kasino des Burgtheaters gestreamten Inszenierung des britisch-irischen Regie-Duos Dead Centre, setzte man pünktlich zum Jahreswechsel noch einen digitalen Vorstoß nach.

Unmittelbarkeit

Geht es allerdings darum, Stücke aus dem Repertoire ins Netz zu bringen oder gar Premieren online auzustrahlen, zeigt sich die österreichische Theaterszene eher von der zurückhaltenden Seite. Auf der Website des Burgtheaters steht dazu Folgendes: „Konventionelle Streamings von Theateraufzeichnung haben wir darüber hinaus aber weitestgehend vermieden. Theater ist in unseren Augen ein besonderes Medium, das im Moment stattfindet; das geht beim klassischen Streaming verloren, ebenso wie die gemeinsame Energie zwischen Bühne, Schauspieler*innen und Zuschauerraum.“

Die Unmittelbarkeit des Theatererlebnisses, genauso wie die Nichtwiederholbarkeit und Wertschätzung des Moments, scheinen für das Burgtheater kaum mit gängigen Streamingformaten kompatibel zu sein. Für die Sendereihe „Wir spielen für Österreich“ auf ORF III macht das Theater jedoch eine Ausnahme: Am 23. April werden „Die Bakchen“ in der Inszenierung von Ulrich Rasche gezeigt. Allerdings kamen bei dieser Aufzeichnung auch eine ganze Reihe filmischer Mittel zum Einsatz, um das Stück so abzufilmen, dass es auch am TV-Bildschirm seine volle theatreale Wucht entfaltet. Dazu gehört unter anderem der Einsatz mehrerer Kameras und eine für das Fernsehen adaptierte Lichtsetzung.

Felix Kammerer spielte schon während seiner Studienzeit an renommierten Häusern. Seit 2019/20 am Burgtheater.

Katarina Šoškić

Geben und nehmen

Wie stehen die im Statement des Burgtheaters bereits angesprochenen Schauspielerinnen und Schauspieler eigentlich zum Thema Streaming? Felix Kammerer, Ensemblemitglied des Burgtheaters, sieht die Sache wie folgt:

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„Alle (kulturellen) Veranstaltungen haben den gleichen Kern: Eine Gruppe von Menschen teilt für eine begrenzte Dauer ein Erlebnis, einen Raum und die gemeinsame Zeit. Ich hatte bisher immer den Eindruck, ‚Live‘-Vorstellungen sind etwas, das den Zusehenden sozusagen ‚gegeben‘ wird, wohingegen vorproduzierte Vorstellungen von den Zusehenden irgendwie nur genommen‘ werden. Meiner Meinung nach ist aber dieses ‚Bekommen‘ in den meisten Fällen inspirierender als das ‚Nehmen‘.“

Auch er verweist in diesem Zusammenhang auf die Beziehung zwischen den Spielenden und dem Publikum im Saal. „Jede Vorstellung wird vom Publikum beeinflusst, was wiederum die Spielenden beeinflusst. Ohne diese ständige Reaktion aufeinander, kann es kein Theater geben. Das wäre wie ein Videochat, bei dem eine Seite weder Kamera noch Mikrofon hätte. Probieren Sie es aus: Stellen Sie sich in Ihr Badezimmer und lesen Sie Ihrem Shampoo „Die kleine Hexe“ vor. Da hält sich das gemeinsame Erleben in Grenzen. Vor einer Gruppe von Kindern macht es um einiges mehr Spaß“, sagt Felix Kammerer und fügt abschließend hinzu: „Also nein, ich bin kein Freund des Streams. Der Theaterstream ist eine Möglichkeit, das Warten erträglicher zu gestalten, um nach Öffnung der Theater dann aber auch wieder vergessen zu werden.“

Filmstill aus „Flüstern in stehenden Zügen". Foto: Patrick Orth

Der Theater-Live-Film als neue Form

Auch für Katharina Klar, Ensemblemitglied im Theater in der Josefstadt, ist es die Unmittelbarkeit, die das Theater als Medium auszeichnet. Und eine glückliche Verbindung von Theater und Stream unmöglich macht. „Ich tu’ mir total schwer damit“, sagt Klar. „Es ist niemals ein Ersatz, Theater ist live, im Raum, Streaming hat damit wenig zu tun. Ich glaube schon, dass man manche Formate extra für das Medium adaptieren kann. Und bevor Stücke gar nicht aufgeführt werden, ist das eine Notlösung, aber es bleibt eben eine Notlösung. Ich finde es auch schwierig, mir das anzusehen, ich steige da oft aus.“ 

Bekim Latifi spielt in Hauptrolle in Clemens Setz Stück „Flüstern in stehenden Zügen“, das von den Münchner Kammerspielen als Theater-Live-Film gezeigt wurde. In diesem neuen Format wurden, wie er erklärt, filmische Elemente mit Theaterelementen verschmolzen. „Damit das so gelingt, wie wir uns das vorgestellt haben, haben wir uns mit Visar Morina einen renommierten Filmregisseur und mit Patrick Orth einen der meistbeschäftigten Kameramänner Europas geholt. Bei der Kamera war uns sehr wichtig, dass jemand verantwortlich dafür ist, der vom Fach ist und sich auch künstlerisch in das Projekt einbringen kann“, so der Schauspieler.

Um so etwas erfolgreich als eigenständiges Projekt umzusetzen, ist seiner Meinung nach aber auch wichtig, um welche Art von Stoff es sich handelt. „Ginge es bei einem Stück vor allem um Pointen oder wäre dafür eine Energie im Raum notwendig, fände ich es schon unbefriedigend und einsam“, ergänzt Latifi. Insgesamt würde er sich wünschen, dass das Thema Digitalisierung weiter vorangetrieben wird. Und Abende gemacht werden, die ausschließlich als Stream konzipiert werden. „Mit guten Regisseurinnen und Regisseuren, die diese Mittel beherrschen.“

Michael Maertens schlüpft in „Die Maschine in mir" in die Rolle des Transhumanisten Mark O'Connell.

Foto: Marcella Ruiz-Cruz

Ein einmaliges Live-Erlebnis

Ob ein Abend, der als Stream konzipiert wurde, funktioniert oder nicht, hängt auch für Michael Maertens sehr vom Stück ab. Und auch, ob einem als Schauspieler das Publikum fehlt oder nicht. Noch während „Die Maschine in mir" gezeigt wurde, erklärte er das auf folgende Weise: „Ganz ehrlich: Ich vermisse nichts. Keinen Applaus und keine Reaktionen. Aber das ist dem Abend geschuldet, bei einem anderen Projekt würde mir das Publikum selbstverständlich fehlen“, so der Schauspieler. Michael Maertens überwand in „Die Maschine in mir (Version 1.0)“ mit technischer Hilfe die Grenzen zwischen seinem eigenen Körper und den Körpern des Publikums, das mittels eingesendeter Selfie-Videos und Tablets auf der Zuschauertribüne des Kasinos Platz nahm, während der Schauspieler live auf eben dieser Bühne stand und spielte.

„Ich bin nach wie vor ein ‚Streaming-Gegner‘", sagt Maertens. „Aber nur, weil ich glaube, dass das Theater ein Ort des gemeinsamen Erlebens ist. Und Dead Centre hat einen Abend geschaffen, der zwar gestreamt werden muss, aber dennoch ein einmaliges Live-Erlebnis bietet.“

Weiterlesen: Andrew Morstein: Über die Popmusik zur Barockoper

Nachschauen: Alle Folgen von „Wiener Stimmung" auf der Website des Burgtheaters