Wenn die Orgel ertönt und ihr imposanter Klang das gesamte Kirchenschiff ausfüllt, dann ist normalerweise nicht zu sehen, wer sie spielt. Wer sitzt am Spieltisch und betätigt die Tasten, die Registerzüge und Pedale, sodass die Luft durch die langen Pfeifen gedrückt und in Töne verwandelt wird? „Ein Mann, groß und blass“, fasst Catalina Vicens, Organistin und Cembalistin, das Stereotyp zusammen, das im kollektiven Gedächtnis herumgeistert. Ein Mann, wegen der Nähe zur Kirche. Groß, weil die körperliche Kraft, die notwendig sein kann, um diese oft riesengroßen Instrumente zu bespielen, Männern von einer gewissen Statur zugeschrieben wird. Und blass, „weil sie das Sonnenlicht nie sehen“, erklärt Vicens verschmitzt.

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Stereotyp und Wertschätzung

Sie entspricht dem Klischee nicht. Sie ist 1,54 Meter groß. Das Tageslicht sieht sie oft genug. Die Leute könnten sich nicht vorstellen, dass „eine zierliche Frau“ fähig sei, die Orgel zu spielen. Sie werde als „exotisch“ wahrgenommen. „Wie schaffen Sie das?“, werde sie manchmal gefragt. Ihre Reaktion? „Ich habe zehn Finger und zwei Füße. Das reicht.“ Doch das Vorurteil, wie Menschen aussehen sollten, um etwas zu tun, sei sehr einschränkend.

„Die Leute beurteilen mich anders, als sie einen Mann beurteilen würden, der versucht, er selbst zu sein“, sagt Vicens. Wenn sie ein Video von einer Performance online stellt, werde sie etwa dafür kritisiert, was sie trägt, wie sie sich bewegt oder wie sie ihre Augen öffnet und schließt. Es werde ihr vorgeworfen, dass sie mit ihrer Sexualität punkten wolle. „Ich habe festgestellt, dass ich mein Geschlecht neutralisieren muss, um nicht kritisiert zu werden. Das ist zu einer ständigen Frage für meine Arbeit geworden.“ Doch sie erfahre, unabhängig von ihrer Person, auch viel Wertschätzung, weil ihre Arbeit in Bezug auf Instrumente und Repertoire eine Neuheit darstellt.

Die Rieger-Orgel im Anton Heiller-Saal der Universität für Musik und Darstellende Kunst. Die Orgel ist das Jahr 2021 in Deutschland.

Foto: MDW/Daniel Willinger/dwphoto.at

Frauen an der Orgel noch Ausnahme

Vicens ist auf historische Tasteninstrumente spezialisiert und in Europa, den USA und Lateinamerika als Solomusikerin sowie Dozentin tätig. „Was ich nicht sehe, ist eine Ausgewogenheit bei den hohen Positionen“, sagt sie im Gespräch mit der BÜHNE. „Man kann schnell ein paar Namen nennen, aber wenn man beginnt zu zählen, merkt man, dass Frauen die Ausnahme sind.“

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Stimmt. Da gibt es zum Beispiel die international gefragte Konzertorganistin Iveta Apkalna. Sie ist Titular-Organistin der Elbphilharmonie in Hamburg. Sarah Kim ist Co-Titularin im Oratorium des Louvre in Paris. Rachel Mahon übernahm kürzlich die musikalische Leitung der Kathedrale von Coventry in England. Schaut man nach Österreich findet man etwa Mirjam Schmidt, Direktorin des Konservatoriums für Kirchenmusik der Erzdiözese Wien, oder Yasuko Yamamoto, Diözesankantorin in Wien. Doch gemessen an der Anzahl und der oft jahrhundertealten Geschichte europäischer Kathedralen, Dome oder Bildungsinstitutionen, machen die Frauen an der Spitze nur einen sehr kleinen Prozentsatz aus.

Wie in vielen Berufsfeldern – in und außerhalb der klassischen Musik – lässt sich auch bei der Orgel das Phänomen beobachten, dass man weniger Frauen findet, je weiter oben auf der Karriereleiter man sucht. Dafür stehen exemplarisch auch Zahlen des Instituts für Orgel, Orgelforschung und Kirchenmusik an der Universität für Musik und Darstellende Kunst in Wien (MDW). Während die Quoten unter den Studierenden schon seit Jahren in etwa gleichauf sind, sind nur 19 Prozent der Lehrenden Frauen.

Bewegung in der Orgel-Szene

Für Johannes Ebenbauer, Leiter des Instituts, gibt es dafür einen Orgel-spezifischen Grund: die Improvisation. Während sie bei Instrumenten wie dem Klavier oder der Geige, wo sich inzwischen sehr viele Frauen hervortun, kaum eine Rolle spielt, ist sie für die Orgel von zentraler Bedeutung. Gleichzeitig ist die Improvisation nach wie vor ein männlich dominierter Bereich. Um sich aber für eine Professur zu qualifizieren, muss man neben dem Orgel-Literaturspiel auch ausreichend Erfahrung in Konzert-Improvisation sowie liturgischem Orgelspiel mitbringen. „Wo kriegt man diese Erfahrung? In Kathedralen und Domen – wo leider immer noch nicht viele Frauen tätig sind“, sagt Ebenbauer.

Für die Zukunft ist er guter Dinge: „Es tut sich sehr viel aus meiner Beobachtung. Es gibt Persönlichkeiten, die fähig sein werden, sich in fünf bis zehn Jahren für solche Positionen zu bewerben.“ Ähnlich wie bei den Dirigentinnen, wo sich „in den letzten fünf Jahren wahrnehmbar viel bewegt hat“, werde es auch bei der Orgel bald mehr Ausgewogenheit an der Spitze geben.

Repräsentation als erster Schritt

Ein anderes Problem kommt derzeit noch hinzu: „In der Wahrnehmung dringt es nicht durch, dass die Frauen eh da sind“, sagt Ines Schüttengruber, Senior Lecturer für Orgel am Institut für Klavier an der MDW. In internationalen Orgelzyklen sei sie oft die einzige oder eine von zwei Frauen. Und die Veranstalter würden sie dann sofort wieder einladen, weil sie unbedingt Frauen im Programm haben wollten. Das ist doch gut? „Ja, es geht in die gegenteilige Richtung. Frauen mischen mit“, sagt
Schüttengruber. Sie selbst habe Glück gehabt, sich als junge Frau an der Uni zu bewerben. Denn Frauen werden dort, dem Gleichstellungsplan gemäß, bei gleicher Qualifikation bevorzugt. Die Verfahrensstandards sehen zudem vor, dass qualifizierte Frauen zu laufenden Bewerbungen eingeladen werden müssen, sollten nicht bereits ausreichend von sich aus kandidiert haben.

Für Catalina Vicens sind solche Bemühungen der Schlüssel. „Es mag manchen unfair erscheinen, aber Repräsentation ist der erste Schritt. So fühlen sich die jüngeren Generationen vertreten. Sie sehen, dass sie das auch können und die Möglichkeit dazu haben.“

Viel Bedarf an Organisten und Kirchenmusikern

Ein Grund dafür, dass die Orgel in der öffentlichen Wahrnehmung männlich konnotiert ist, ist die schwierige Beziehung der Kirche zur Frau. Frauen sollten in den Gotteshäusern nicht sprechen, nicht singen und nicht musizieren. Diese für die Kirchenmusik prägende Bestimmung geht auf Paulus von Tarsus zurück und ist im 1. Korintherbrief überliefert. In jüngerer Zeit hatte Papst Pius X 1903 Frauen von der Kirchenmusik ausgeschlossen. Und wie ist das heute? „Was täten wir in der Kirche ohne Frauen?“, fragt Winfried Bachler von der Österreichischen Kirchenmusikkommission zurück. Sie trügen den „Hauptanteil des kirchlichen Lebens“, sagt er.

Dass in einem Bereich viele Frauen arbeiten, zeugt allerdings nicht unbedingt von Gleichberechtigung. Denn es sind oft die unattraktiven, schlechter bezahlten und somit auch weniger sichtbaren Posten, die von Frauen ausgeübt werden. Und in Österreich gibt es laut der Kirchenmusikkommission zwar viel Bedarf an Organisten und Kirchenmusikern, aber kaum Anstellungen. Hinzu kommt, dass die Kirche generell an gesellschaftlichem Stellenwert eingebüßt hat.

Das ist auch im protestantischen Deutschland der Fall, wo die Musikwissenschaftlerin und Organistin Cordelia Miller tätig ist. Selbst Kantorin in einer Berliner Kirche weiß sie, dass es „hier sehr viele
Pfarrerinnen und Kantorinnen gibt“. Doch das hänge auch damit zusammen, dass der Pfarr- sowie auch der Kirchenmusikberuf an gesellschaftlicher Wertschätzung verloren hätten – und damit für männliche Bewerber weniger interessant geworden seien. Männer würden oft Berufe suchen, die mit
gesellschaftlicher Anerkennung einhergehen. Man finde sie deshalb eher „an den 100-Prozent-Stellen an den großen Domen“. Die Orgel sei in Deutschland zudem, historisch betrachtet, unauflöslich mit der Kirche verbunden. „Das hat dazu geführt, dass ein religiöser Konservativismus, auch im Bereich der Stellenbesetzungen, bis heute eine Rolle spielt“, sagt Miller.

Seit 2018 sind Orgelmusik und Orgelbau von der Unesco als Immaterielles Kulturerbe anerkannt.

Foto: MDW/Daniel Willinger/dwphoto.at

Blasinstrumente waren tabu

Welche Instrumente Frauen spielen sollten, war in der bürgerlichen Gesellschaft des 18. und 19. Jahrhunderts streng geregelt. Als passend für Frauen galten Klavier, Harfe und Gitarre, weil diese eine anmutige Haltung ermöglicht haben, erklärt Freia Hoffmann. Sie ist Leiterin des Sophie Drinker Instituts für musikwissenschaftliche Frauen- und Geschlechterforschung in Bremen. „Blasinstrumente waren tabu – aufgeblasene Backen, verzerrte Gesichtszüge, das ging gar nicht.“ Blechblasinstrumente waren zudem mit Militär und Jagd konnotiert.

Bei den Streichinstrumenten sei eingewandt worden, dass sie heftige Bewegungen verlangten. Frauen sollten sich aber langsam und anmutig bewegen. Das Cello lag sowieso außerhalb des Möglichen. Eine Frau konnte ein Instrument nicht zwischen die Beine nehmen.  „Bei der Orgel kann man sagen, sie ist so klavierähnlich, dass es kein Problem sein sollte“, erklärt Hoffmann, „aber die Beinarbeit galt als sehr unschicklich. Der Pedal-Gebrauch war der Knackpunkt.“ Die Orgel kam also schon als Musikinstrument, unabhängig von der Kirche, für Frauen kaum infrage.

Probleme teilweise bis heute nicht gelöst

Die Probleme, die sich für Musikerinnen mit der Etablierung der bürgerlichen Kultur ergaben, sind zum Teil bis heute nicht gelöst. Das zeigt sich etwa auch an den Symphonieorchestern: „Frauen sind an den Pauken, Kontrabässen, Blechblasinstrumenten prozentual verschwindend gering vertreten“,  sagt Musikwissenschaftlerin Hoffmann. Umgekehrt ist der Frauenanteil etwa bei der Harfe noch heute sehr hoch, wie aus einer Publikation des Instituts aus 2018 hervorgeht.

Dennoch gab es schon in der Vergangenheit viele, die – entgegen aller Widerstände – Orgel spielten und auch beruflichen Erfolg damit hatten. Das zeigt eindrucksvoll das Instrumentalistinnen-Lexikon des Sophie Drinker Instituts. Es waren oft Pfarrerstöchter oder Frauen, die aus Musikerfamilien stammten. So zum Beispiel die ersten zwei Frauen im deutschsprachigen Raum, von denen bekannt ist, dass sie als Organistinnen fest angestellt waren. Thekla und Christina Lachner wurden, wie ihre drei Brüder, vom Vater in Klavier-, Orgel- und Violinspiel unterrichtet. Als dieser 1820 verstarb und die Familie in finanzielle Bedrängnis geriet, mussten sie den Lebensunterhalt verdienen.

Christina, die erst 15 Jahre alt war, bestand die öffentliche Prüfung und übernahm das Organistenamt an der Stadtpfarrkirche in Rain von ihrem Vater. Sie gab es allerdings nach ihrer Heirat an ihren Mann ab. Thekla setzte sich bei einem Probespiel in der St. Georgskirche in Augsburg gegen mehrere Mitbewerber durch und wurde dort als Organistin fest angestellt.

Obwohl sie heiratete und mindestens elf Kinder zur Welt brachte, behielt sie – damals unüblich – ihren Job. Offenbar konnten sich nicht alle damit abfinden, dass eine Frau die Stelle besetzte. Der Chorregent zahlte ihr statt der vereinbarten 50 nur 30 Gulden Gehalt und versuchte sie zur Aushilfe zu degradieren. Thekla konnte ihre Stellung jedoch verteidigen und genoss schließlich auch als Orgel- und Klavierlehrerin einen „ausgezeichneten Ruf“, wie es im entsprechenden Lexikon-Eintrag heißt. 

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