Schlau ist, wenn man als ­Theatermacher Antworten wie diese gibt: „Du kannst Nesterval nur verstehen, wenn du es ­gesehen hast.“ Das schafft Ticketkaufdruck. Was aber, wenn man es – wie der Autor dieser Zeilen – nach drei Produktionen noch immer nicht versteht, sich aber im Nichtverstehen so unglaublich wohl in der von Nesterval erschaffenen Theaterwelt fühlt? „Dann“, antwortet Herr Finnland grinsend, „ist das eines der schönsten Komplimente.“ Eine Antwort, die ebenso schlau wie höflich ist.

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Seit nunmehr neun Jahren erzaubert die Theatergruppe Nesterval Welten für ihr Publikum, die einzigartig sind. Einmal bauen sie ein altes Kloster zu einem Hotel um und bespielen es mit einem Stück, das eine Mischung aus „Dirty Dancing“ und „Faust“ ist. Ein anderes Mal wird das Areal des Stiftes St. Peter in Wien-Dornbach zu dem beklemmendsten Dorf seit „Via Mala“.

Inspiration in der Tiefgarage

Jetzt öffnen sie die seit 50 Jahren verschlossenen Räume im Untergrund von Wien, in denen die letzten wahren Sozialdemokraten leben, und lassen das Publikum im „Kreisky-Test“ darüber abstimmen, ob diese ­Überlebenden der goldenen sozialdemokratischen Zeiten in einem Zoo weiterleben oder in die Gesellschaft integriert werden sollen.

Herr Finnland hat die Idee zum neuen Stück geträumt; neben ihm sitzt Frau Löfberg (beide heißen übrigens nicht so, aber das ist egal). Ihr hat er diesen Traum erzählt: „Ich bin in einem Taxi eine Tiefgarage in Wien immer weiter runtergefahren. Dort unten hatte der Kreisky eine Stadt unter der Stadt gebaut. Diese Welt mit ihren Menschen wurde einfach vergessen.“ – „Und ich hab dann gesagt: ‚Das ist unser neues Stück!‘“ Frau Löfberg hat als Schauspielerin für Paulus Manker gespielt und für den Life Ball gearbeitet. Dort haben sich die beiden kennengelernt.

Ausgangspunkt Schnitzeljagd

Herr Finnland hat später von Ausstattungsgenie Andi Lackner gelernt, dass man „kein Arschloch sein muss, um kreativ zu sein“, und wie man Ideen auch zur Umsetzung bringt. Aber begonnen hat alles mit einer Geburtstagsparty: „Die haben da eine Schnitzeljagd gemacht, und ich dachte mir, das könnte man ausbauen.“ Das Wort Schnitzeljagd sagt man im Kosmos von Nesterval nicht mehr – lieber nennen sie es Abenteuer.

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Frau Löfberg erzählt aus den Anfangszeiten: „Beim ersten Abenteuer konnten wir gerade zwölf Menschen dazu zwingen, uns zuzuschauen – aber am Ende wurden wir gefragt, wann wir das wieder machen wollen. So ist es langsam gewachsen. Zuerst waren wir im öffentlichen Raum, später haben wir dann Räume gefunden, und das Publikum ist durch reine Mundpro­pa­ganda immer mehr gewachsen.“

48 Menschen machen Nesterval aus

Ein Zirkusabenteuer in der Kunsthalle, das nur dreimal zur Aufführung hätte kommen sollen, wird aufgrund der großen Nachfrage ein halbes Jahr gespielt. Der Radiosender FM4 bucht die Gruppe fürs Streetlife Festival, und aus der kleinen Gruppe entsteht ­langsam Nesterval mit seinen einzigartigen Charakteren.

23 Menschen sind mittlerweile im Main Cast, im erweiterten Kreis 48 – Menschen aus ganz unterschiedlichen Jobs, etwa Grünen-Politiker Peter Kraus oder Autor Christopher Wurmdobler. Letzterer hat mit dem Roman „Reset“ 2019 ein kleines Meisterwerk veröffentlicht. Er gehört zum Kernteam und ist seit Anbeginn des Gesprächs mit dabei: „Jeder bekommt die gleiche Gage, egal wie groß die Rolle ist. Ich kann zwar nicht von, aber mit Nesterval mittlerweile gut leben.“

Mit zwölf Menschen im Zoom-Meeting

Der ursprüngliche Plan war, dass 120 Besucher pro Vorstellung durch verschiedene Räume, die alle gleichzeitig bespielt werden, gelotst werden. Das Publikum wäre durch ein ausgeklügeltes „Fahrleitsystem“ in Kleingruppen von Ort zu Ort geführt worden. Coronabedingt findet "Goodbye Kreisky" nun online statt. Höchstens zwölf Gäste befinden sich in einem Zoom-Meeting.

„Teil des Konzepts ist, dass das Publikum mitentscheiden kann, was es mitnimmt“, sagt Finnland. „Es gibt Menschen, die besessen davon sind, alles zu verstehen, die schreiben mit, fragen. Dann gibt es die, die durchgehen und sagen: ‚Wo bin ich da?‘“

Finnland und Co haben für ihre Produktionen eine komplexe wie auch amüsante Familienchronik verfasst, deren Charaktere immer wieder in den unterschiedlichsten Stücken auftreten. Mittlerweile arbeiten Nesterval mit der Hamburger Kulturfabrik Kampnagel zusammen; sie dürfen in der leeren Wiener Generali-Arena ihr neues Stück drehen und haben – endlich – den Nestroy verliehen bekommen. Das freut Herrn Finnland. Wirklich glücklich macht ihn aber, „dass es uns gelungen ist, mit Nester­val die kuriosesten und schönsten Menschen auf einen Fleck zusammenzubekommen – die dann auch noch Spaß dabei haben, etwas Gemeinsames zu schaffen“.

Herr Finnland & Frau Löfberg haben 2011 Nesterval gegründet.

Foto: Julia Fuchs

Steckbrief: Herr Finnland & Frau Löfberg

Beide haben für den Life Ball gearbeitet und Events organisiert. Sie hat auch in Mankers „Alma“ gespielt. 2011 haben sie Nesterval ­gegründet. 48 Schauspieler und Laien spielen in der Gruppe. 

Tickets und Termine: Goodbye Kreisky. Willkommen im Untergrund

Immersive Live-Zoom-Version – mehr als nur ein digitaler Ersatz - via ZOOM
27. bis 29. November 2020, jeweils 19:00 Uhr
3. bis 6. und 10. bis 12. Dezember 2020, 19:00 Uhr

"Goodbye Kreisky" als digitales Theatererlebnis

Weitere Infos: Nesterval.at

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