Der Schein trügt. Ein florales Kleidchen zu blümchenübersäten Leggings und zwei neckische Zöpfe machen aus Marianne Kohn noch kein niedliches Mädchen. Auch nicht das Swarovski-Krönchen, das sie zu Fotozwecken in der Handtasche mitführt. Wenn die Chefin der Loos Bar im Herzen der Stadt den Mund öffnet, wähnt man sich in einem Gespräch mit Charles Bronson. Tief die Stimme, kehlig das Lachen. „Eine Frau sieht rot“, durchaus vorstellbar, sollte sich in ihrem American-Bar-Reich jemand nicht zu benehmen wissen. Aber das haben nicht einmal Männer wie Quentin Tarantino oder Marilyn Manson gewagt, wenn sie bei ihr aufschlugen. 

Anzeige
Anzeige

Marianne Kohn hat mehr als vierzig Jahre Nachtgastronomie ebenso überlebt wie eine Krebserkrankung. Sie war die unumstrittene Königin an den Tumblern im U4, organisierte zahlreiche Clubbings, leitete das Café Europa und dirigiert seit nunmehr 26 Jahren den Zirkus in der Loos Bar. Daneben gründete sie ihr eigenes Punk-Label „Povera“, für das sie schwarze Kleider oder Shirts mit Slogans wie „Old is the New Black“ bemalt.

Povera – also „die Arme“ – lautet auch der Spitzname von Marianne Kohn. „Den bekam ich schon als Kind. Da wartete ich am Bühnentürl der Wiener Staatsoper auf eine befreundete Sängerin, sie kam raus, sah mich klatschnass und rief laut ‚Poverina!‘ Seitdem heiße ich so.“ Falscher könnte eine Bezeichnung zwar nicht sein, sie bringt die Szene-Doyenne aber zu ihrem Leib- und Lieblingsthema: der Oper. 

„Ich brauche Herz-Schmerz“

Dass die Häuser wieder regulär geöffnet haben, ist für Marianne Kohn ein Segen. „Weniger das Sprechtheater als vielmehr die Oper. Mir haben die Musik, der Gesang, das Märchen Oper gefehlt“, gerät sie unumwunden ins Schwärmen. Die Zeit des Darbens habe sie mit alten Produktionen im Internet überstanden. 

Wie kommt eine reich tätowierte Frau mit dieser Vita überhaupt zum dramatischen Singspiel? Der Keim wurde in Marianne schon früh gelegt. „Meine ganze Familie ging regelmäßig in die Oper. Meine Mutter war vor dem Zweiten Weltkrieg in der Claque, also in der Gruppe bezahlter Claqueure. Die Oper war einfach meine Kindheit, ich habe zu Hause nie etwas anderes gehört, und, wenn ich ehrlich bin, verstehe ich von moderner Musik auch nichts.“ 

Anzeige
Anzeige

Es ist ein Wunder, dass man mit derartiger Vorliebe das U4 oder die Clubbings im Technischen Museum überstehen konnte. „Wenn richtiger Hardrock gespielt wurde, hat es mir lustigerweise auch gefallen, wahrscheinlich weil es dabei laut und deftig zugeht. Malcolm McLaren hat auch viel mit Oper experimentiert, er hat zum Beispiel ‚Madama Butterfly‘ elektronisch interpretiert. Das haben wir sehr oft im U4 gespielt. Aber ich konnte diese beiden Welten grundsätzlich immer gut trennen.“ 

Für mich ist eine Oper nur dann eine Oper, wenn jemand stirbt."

Marianne Kohn

Es heißt nicht umsonst, die Kohn habe einen Fetisch für italienische Opern. „Ausschließlich!“, erhebt sie lachend ihren Bass. „Italienische Opern haben Herz-Schmerz, das, was Oper ausmacht. Meine Mutter war Wagnerianerin, mein Vater Straussianer, für mich war das nichts.“ Auch mit Mozart braucht man ihr nicht zu kommen, „Die Zauberflöte“ eventuell ausgenommen. Sie schwärmt für Puccini, dessen Gärtner sie auf einer ihrer vielen Opernreisen in Torre del Lago Puccini, einem Ortsteil von Viareggio, kennengelernt hat. Für Francesco Cilea, Pietro Mascagni, Alfredo Catalani. „Manche kennt man bei uns gar nicht. Ich liebe Belcanto, und da ich lange in Italien gelebt habe und die Sprache verstehe, ist Belcanto für mich das Beste.“ Schöner Gesang also. Das würde man bei ihr auch nicht zwingend vermuten.

Madama Barfly. Seit 26 Jahren Doyenne derLoos Bar, hat Marianne Kohn noch lange nicht genug vom Nachtleben.

Foto: Rafaela Proell

Auf keinen Fall ein Happy End

„Für mich ist eine Oper nur dann eine Oper, wenn jemand stirbt. Wenn es gut ausgeht, interessiert es mich nicht.“ Auch hypermodernen Inszenierungen steht sie eher skeptisch gegenüber, wobei: „Die ‚Traviata‘ mit der Netrebko und dem Villazón war modern und trotzdem traumhaft schön. Auch ‚La Bohème‘ mit Anna Netrebko als Punk hat mich überzeugt.“ Was sie allerdings nicht brauche, seien die allgegenwärtigen Videoprojektionen. Und auch Jeans und Sneakers in der Oper sind für sie ein No-Go. „Eigentlich müsste auf jeder Karte stehen: ,Um adäquate Kleidung wird gebeten.‘ Man sollte jeden, der mit einer kurzen Hose in die Oper kommt, wieder raushauen. Also entschuldige! Oper ist ein Ereignis, da sollte man sich schön anziehen.“ 

Vor zwei Jahren postete Marianne Kohn auf Facebook: „Jeder braucht Maria Callas.“ Wofür denn? „Für die Seele. Ich habe sie mit 12 oder 13 live in ,Lucia di Lammermoor‘ gesehen. Meine Eltern und ich waren danach sogar im Sacher mit ihr essen. Als Kind war mir das egal. Heute würde mich vor Aufregung der Schlag treffen.“ Aktuell verehrt sie Asmik Grigorian, Kristīne Opolais und Jonas Kaufmann. 

Eine eigene Sangeskarriere wäre möglich, aber unattraktiv gewesen. „Weil ich eine Alt-Stimme habe, und Alt ist fürchterlich, die stirbt ja nie.“ Also wurde sie Cutterin in Italien und arbeitete mit Kinogrößen wie Federico Fellini und Pier Paolo Pasolini. Wie kam es dazu? „Cutterin war ein Lehrberuf, für den man keinen Schulabschluss gebraucht hat. Also genau das Richtige für mich.“ Schallendes Gelächter folgt ihren Ausführungen. Mit 17 setzte sie sich in den Zug und fuhr nach Rom. „Illegal natürlich, ich bin abgehauen. Die Reise hat damals 24 Stunden gedauert. Ich sprach kein Wort Italienisch und habe einfach überall ein ‚o‘ angehängt, weil ich dachte, das klingt italienisch. Bitto, danko, die haben sicher geglaubt, dass ich nicht ganz dicht bin.“ Aber sie hatte ein Diplom, wurde eingestellt und blieb acht Jahre.

Nach Wien kam sie zurück, um ihre Papiere zu holen, wollte sie doch „einen feschen Schauspieler“ heiraten. „Der hat dann zwei Jahre in Italien auf mich gewartet, weil ich mich hier in einen anderen verliebt habe.“ Es folgten Heirat, Kinder und ihre legendäre Nachtkarriere, der sie tatsächlichen Kultstatus verdankt. 

Vergoldete Wienerin

Marianne Kohn ist ganz nebenbei auch Trägerin des Goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien. Eine Auszeichnung, die ihr auch für ihr Engagement im Tierschutz gebühren würde. „Meine Familie und ich haben einen Verein gegründet und im letzten Jahr 36 Hunde aus Serbien gerettet und vermittelt.“ 

Würde jemand eine Oper über sie schreiben, was sie eher amüsieren denn ehren würde, müsste sie „La Poverina“ heißen. Und die Handlung: „Etwas mit Hunden. Eine opera di cani. Aber ich glaube, ein solches Stück will niemand komponieren.“ Wer weiß. 

Foto: Rafaela Proell

Zur Person: Marianne Kohn

1945 als Tochter jüdischer Eltern in Wien geboren, ­arbeitete sie in den 1960er-Jahren als Cutterin in Rom, u. a. für Federico Fellini und Pier Paolo Pasolini. Zu ihren gastronomischen Stationen zählen Club Schoko, Café Europa, U4, Technisches Museum und – seit 26 Jahren – die Loos Bar. Sie ist Opernfan, ­Designerin, Tieraktivistin und bekennende Oldtimer-Adorantin.